Im Schatten großer Namen ist immer noch ein Plätzchen frei.

Was haben kunsthistorische Erinnerungen mit meinem verträumenden Blick aus dem Atelierfenster auf die Treppe zu tun, die an meinem Atelier vorbeiführt? Nun, sie erinnert mich, nicht nur heute, an das berühmte Bild „Akt die Treppe herabsteigend Nr. 2“ von Marcel Duchamp. Es entstand im Jahr 1912. In diesem kubistischen Bild ersetzte Duchamp den bislang übliche eindimensionalen, standpunktfixierten Blick auf einen Gegenstand durch eine mehrperspektivische Sicht. Duchamp war einer der ersten Künstler, der so die Dimension „Zeit“ in die Malerei einbrachte. Ein anderes, ebenso berühmtes Bild, an das ich in diesem Zusammenhang oft denken muss, zeigt eine nackte Frau, die scheinbar schlafwandlerisch eine Treppe hinunter schreitet. Der Titel dieses Bildes lautet „Ema – Akt auf einer Treppe“. Der Maler Gerhard Richter fertigte dieses Bild 1966 an. Und ich? Ich schuf mir unlängst ein kleines „missing link“. Eine bis dato fehlende Verbindung zwischen der vergangenen und der neueren (Kunst-)Geschichte. Oder passender formuliert: im Schatten großer Namen ist immer noch ein Plätzchen frei.

Nächtliche Reise um mein Atelier

Süße Einsamkeit. Wehe dem, der nicht einen einzigen Tag seines Lebens allein sein kann.

Es ist Abend. Wenn ich nun müde werde und mir eine angenehme Erholung verschaffen möchte, beschließe ich mein Tagewerk oft damit, dass ich auf eine Trittleiter vor meinem Atelierfenster trete und hinausblicke. Auf seiner ersten Stufe angelangt, sehe ich nur Himmel. So eine nächtliche Reise fange ich gerne um acht Uhr abends an. Ist das Wetter ruhig, dann verspricht es eine schöne Nacht zu werden. Ich schaue bloss…

In der Tat bin ich überzeugt, dass ein wirklich Schauender sehr viele interessante Dinge sieht. Ich blicke nach oben. Wie eine leichte Wolke teilt die Milchstraße den Himmel. Die Betrachtung des gestirnten Himmels hat für mich einen immer neuen Reiz. Ich, ein vergänglicher Zuschauers eines ewigen Schauspiels. Erhebt der Mensch einen Augenblick seine Augen zum Himmel und schließt sie dann für immer?

Warum, so frage ich mich, muss ein Mensch unbedingt auf einen Berg klettern? Weil er da ist? In diesem Augenblick zieht ein Irrlicht am Himmel vorbei und verschwindet fast sofort wieder. Meine Augen, welche die Klarheit des Meteors kurz abgelenkt hatten, richten sich nun, da ich wieder aus dem Fenster blicke, auf einen benachbarten Balkon. Und erblicken dort einen kleinen Damenschuh! Abwechselnd sehe ich auf das Sternbild über mir und dann auf den Damenschuh. Schnell bemerke ich, dass diese beiden Empfindungen von ganz verschiedener Art sind: eine ist in meinem Kopf, während die andere mir in der Gegend des Herzens ihren Sitz zu haben scheint.

Inzwischen ist es Mitternacht geworden! Ich bin nicht abergläubisch, aber diese Stunde hat mir immer eine Art von Furcht eingeflößt. Wenn ich jemals sterben sollte, es sollte um Mitternacht geschehen. Aber warum soll ich überhaupt eines Tages sterben? Ich, der ich mich fühle und mich berühre, ich soll sterben? Nein!

Was, wenn man den stürmischen Winden aus dem Wege geht und die himmlichen Boten überlistet? Angenommen, ich würde einfach von meinem Kurs abgehen und zwei Tage später daheim einlaufen, und man fragt mich: „Wo bist du die ganze Zeit gewesen?“, was sollte ich sagen? „Bin herumgefahren, um dem schlechten Wetter auszuweichen“, wäre meine Antwort. „Das muss aber verdammt schlechtes Wetter gewesen sein“, würde ich mit Sicherheit spöttisch als Antwort erhalten. „Ich weiß nicht. Ich bin dem Wetter ja ausgewichen!“ Wie dem Sterben. Dem Tod.

Plötzlich, da: Ein Passant! Geht durch das Bild ohne zu halten. Bei der Ecke am Bordstein steht eine Tonne. Eine Regentonne, denkt man. Gehört sicher zum Bau. Jemand tritt ins Bild und…

– auch er läuft vorbei. Nein, nicht ganz. Jetzt bleibt er stehen, sieht sich um. Zögert… Dann geht er weiter. Geht aus dem Bild. Die Regentonne! Ich weiß, sie ist mit schwarzem Wasser gefüllt. Da treibt ein Stück Holz. Ich habe es selber gesehen. Ein kleines Stück Holz auf dem schattigen Wasser. Manchmal bewegt es sich. Unmerklich fast.

Ich werfe noch einen letzten Blick aus meinem Atelierfenster auf die Straßenecke der Stadt. Sie ist menschenleer. Menschenleer wie der Balkon mit dem Damenschuh. Dann singe ich ganz verträumt zu mir selbst: „Now it’s time to say good night / Good night sleep tight / Now the sun turns out his light / Good night sleep tight / Dream sweet dreams for me / Dream sweet dreams for you! Because… Ev’rybody had a hard year…

Ev’rybody had a wet dream… Oh yeah.“

(Texte aus/nach: Xavier de Maistre „Die nächtliche Reise um mein Zimmer“, Patrick Roth „Zur Stadt am Meer“ ,sowie Joseph Conrad „Taifun“. Liedzeilen von THE BEATLES „Good Night“ und „I’ve Got a Feeling“)

Der Neuankömmling („Bild-Werden“ bedeutet „Die Welt steht“)

P.S.:

Man dürfte mich fragen, warum ich oft so eigensinnige Titel wähle. Gerne würde ich dann antworten, dass Eltern ihren Kindern doch auch wohlklingende Namen schenken. Nur wer kein Herz hat, der nummeriert seine Kinder durch. Oder seine Bilder. Für die obigen Bild-Zitate zog ich übrigens kein Namenregister zu Rate. Ich durchblätterte einen Text von Peter Handke.

Reise durch mein Atelier

Wie die Leute, die sich intensiv mit sich selbst befassen, bin ich ein Mensch des Monologs. Eine Tatsache, die ich durchaus erkenne, für die ich aber eine Erklärung habe: „Die Künstler um mich herum sagen niemals etwas. Deshalb bin ich es, der redet.“

Als denn: dem Schriftsteller Xavier de Maistre gleich, reise ich durch ein Zimmer. Nicht irgendein Zimmer. Es ist mein geliebtes Atelier.

Ich habe eine Reise in das Herz meines Ateliers unternommen. Ein sicheres Mittel gegen die Langeweile. Ich bin überzeugt davon, dass jeder vernünftige Mensch, welcher Sinnes- und Gemütsart er auch sein mag, meinem Vorbild folgen kann; er sei geizig oder verschwenderisch, reich oder arm, jung oder alt, in der heißen Zone oder am Pol geboren: er kann ebenso reisen wie ich. Er müsste halt nur ein Atelier besitzen.

Sollten sie keines besitzen, ja, dann mögen die Unglücklichen und Gelangweilten der Welt nun eben mir folgen! Mögen alle Faulen sich wie eine Person erheben! Ach, ihr liebenswürdigen Einsiedler, kommt auch ihr! Kein Hindernis kann uns aufhalten; fröhlich überlassen wir uns der Phantasie und folgen ihr überall, wohin es ihr beliebt uns zu führen: In mein Atelier.

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Von Entdeckung zu Entdeckung

Mein Atelier liegt nach den Messungen eines italienischen Physikers auf dem 51. Breitengrad. 112 Stufen (nach anderer Quelle 114 Stufen) führen zu ihm hinauf. Weit, weit weniger Stufen sind es, wenn man das Atelier von der oberen Straße aus besucht. Mein Atelier bildet ein längliches Viereck, das cirka sechsundzwanzig Schritt im Umfang misst, wenn man dicht an seiner Mauer hinstreift. Meine Reise wird indes mehr Schritte haben, denn ich will es in Länge und in der Breite oder auch in diagonaler Richtung durchwandern, ohne einer Regel oder Methode zu folgen.

Sogar im Zickzack will ich gehen und, wenn´s nötig ist, alle geometrisch möglichen Linien beschreiben.

Man müsste schon ein Tor sein, wollte man nicht stehen bleiben oder auch wohl einen Umweg machen, um alle Genüsse und Gefühle mitzunehmen, die man erreichen kann.

Auch verfolge ich, wenn ich in meinem Atelier reise, selten eine gerade Linie. Ich gehe von meinem Tisch zu einem Gemälde.

Von da steure ich schräg hinüber auf meine Tür los; treffe ich aber unterwegs meinen Ledersessel, so mache ich es mir ohne Umstände sogleich in ihm bequem. Ein vortreffliches Möbelstück, besonders für jeden nachdenklichen Menschen. Es ist zuweilen angenehm und immer klug, sich weitab von dem Lärm zahlreicher Gesellschaften behaglich in ihm auszustrecken.

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Ist der Geruch von Apfelkuchen ein Gefühl?

Ich neige gern den Kopf, wenn ich in meinem Ateliersessel ruhe, und überlasse mich den ernstesten Betrachtungen. So „schreite“ ich geneigt von Entdeckung zu Entdeckung. Während meine Seele in sich selbst gekehrt, die verborgenen Irrwege der Metaphysik durchwandert, sitze ich in meinem Sessel. Verträumt strecke ich meinen Arm aus. Dann sitze ich plötzlich sehr aufrecht. „Apfelkuchen!?“ schießt es mir durch den Kopf. Apfelkuchen! Ich liebe Apfelkuchen.

Entschuldigen Sie… aber man sollte mir nicht den Vorwurf machen, ich sei in solchen Nebendingen zu weitschweifig. Das ist eben die Art der (Kunst-)Reisenden! Will man den Montblanc besteigen oder den großen Schlund des Ätnas besuchen, so unterlässt man es nie, auch die geringsten Kleinigkeiten genau zu beschreiben: die Zahl der Personen und der Maulesel und den vortrefflichen Appetit der Reisenden auf Apfelkuchen. Aber wie dem auch sei… die Wände meines Zimmers sind mit Gemälden als auch Zeichnungen behängt. Ich schaue sie mir immer wieder gerne an.

Dabei nehme ich mir oft einen schwarzen Kohlenstift aus meinem Zeichenschrank und ziehe langsam einen schwarzen Strich senkrecht über ein Auge, einen Clownstrich. Dann noch einen Strich über das andere Auge.

Ich mustere mein Gesicht dann in einem Spiegel, immer eindringlicher… doch schnell habe ich schon wieder etwas anderes entdeckt. Von der rastlosen Missgunst der Menschen ist das Vergnügen, das man bei einer Reise in seinem Zimmer hat, geschützt; und es ist unabhängig vom Geld.

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Seine Schrift. Sein Herz.

Ich bin bei meinem Schreibtisch angelangt; schon kann ich, wenn ich den Arm ausstrecke, seine mir zunächst liegende Ecke berühren. Oben auf dem Schreibtisch sind einige Fächer angebracht, die als Bibliothek dienen. Das Ganze wird von einer Büste gekrönt.

Meine privaten Vorlieben sind provinziell oder regional… Ich lebe nicht in einen Film von Bresson [oder Favreau]. Aber wenn ich mich mit Filmen oder ähnlichen Dingen beschäftige, denke ich über die Welt nach. Öffnet man die erste Schublade meines Schreibtischs rechts, so findet man dort Schreibzeug, Papier aller Art. Auch dem trägsten Wesen würden all diese Dinge Lust zum Schreiben machen. Zwischen den Schubladen des Schreibtischs ist eine Vertiefung, in die ich alle Briefe hineinwerfe, wie ich sie empfange. Dort liegen noch alle Briefe, die ich seit zehn Jahren bekommen habe. Die ältesten sind nach dem Empfangstag geordnet. Die neueren liegen bunt durcheinander. Ach, das Herz ist mir so voll! Was für eine traurige Freude empfindet es, wenn meine Augen die Zeilen wieder lesen, die ein Wesen geschrieben hat, welches nicht mehr lebt. Das ist seine Schrift. Das ist sein Herz.

Wir waren glücklich durch unsere Irrtümer. Die Reisen von Captain James Cook und die Beobachtungen seiner Reisegefährten sind nichts im Vergleich mit meinen Abenteuern in meinem Atelier.

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