Gedanken bei der Betrachtung eines Bildes

Ganz er selbst sein darf jeder nur solange er allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit: denn nur wenn man allein ist, ist man frei. Schreibt Arthur Schopenhauer.

Und doch, so allein vor diesem Bild… was wird ich geben, ihre Stimmen noch einmal zu hören?

Eine Hölderlin-Menge

Täglich geh´ ich heraus und such´ ein Anderes immer, / Habe längst sie befragt, alle die Pfade des Lands; / Droben die kühlenden Höhn, die Schatten alle besuch´ ich /… / Nicht die Wärme des Lichts und nicht die Kühle der Nacht hilft / Und in Woogen des Stroms taucht es die Wunden umsonst… (Friedrich Hölderlin)

(Neue und ältere Aspekte im Werk schenken mir, so will ich meinen, den Beginn einer neuen Werkreihe: Die Hölderlin-Mengen)

Schmerzensschrei des Bewusstseins

„Ich schreibe dir einen Brief damit ich nicht mit einer Rasierklinge zu masturbieren brauche“. So lautet ein Gedichttitel von Zdena Holubova, den ich mir wie eine geweihte Hostie zwischen meine Lippen schiebe. Erregt dichte ich den Titel um in „Ich male Bilder, schaffe meine Kunst, damit ich nicht mit einer Rasierklinge zu masturbieren brauche.“ Eine feierlich selige Gänsehaut ziert daraufhin sofort meinen ganzen Körper. „Der Fäulniszustand meiner Träume“ (Jindrich Styrsky), Äpfel in einer Schublade unter meiner Zunge. „Der Eiter der Poesie“ (Karel Sebek), Salz auf der nackten Haut unter einem Porzellanhimmel. „Das Firmament schläft, und irgendwo hinter dem Gebüsch wartet eine Frau auf dich, die aus rohem Fleisch modelliert ist. Wirst du sie mit Eis füttern?“ (…noch einmal Jindrich Styrsky). Ich reiche ihr das Eis auf meiner prallen Eichelspitze. Und ich singe dabei „ein Lied in der wahnsinnigen Tonleiter der Sterne“ (Vladimir Reisel). Auf das „man sieht, wie ich Aufstellung nehme für die Nacht die Wache der Verwandlungen der Bilder und Gleichnisse; oder wie ich arbeite und um mich herum die Hände bewege so nur deshalb weil ich hier dort und anderswo bin in alledem (Vratislav Effenberger). Genau so.

Eine tiefe Wunde

Eine tiefe Wunde im Himmel macht eine tiefe Wunde in der Erde / Nachts rauscht inmitten der Wälder ein Flügel, der die Bäume streift, er fliegt und lässt die Geheimschrift seines Rußes zurück.  (Gedichtzeilen aus „TOYEN“ von Jindrich Heisler)

Versteckspiel-Pietà

Maskenschichten auf einem einzigen Antlitz / Urgebirge Primärformation Sekundärformation des Ausdrucks / Tertiär und so weiter / Der große Karneval im Gesicht / Nur die Seismographen der Augen könnten / Das ferne Trauerbeben notieren / Nur die Lippenküste könnte / Die weißen Hochwasser der fröhlichen Meere auffangen / Nur vom Aussichtsturm der Nase wäre es möglich / Die maskierten Umzüge der Frauenparfüms zu betrachten / Jedoch / Maskenschicht bedecken das Antlitz /… Warten wir bis Mitternacht

(Gedicht: „Etwas für Geologen“ von Zdena Holubova)

Legende

Eine Legende ist u.a. eine kurze, erbauliche religiöse Erzählung über Leben und Tod oder auch das Martyrium von Heiligen…

In meinem Fall bedeutet das…

Pietà

Ich sehe was, was du nicht siehst…? 

Für den Philosophen Ludwig Wittgenstein ist die Frage des Aspektwechsels eine Frage der Fähigkeit, „etwas als etwas zu sehen“. Denjenigen, dem diese Fähigkeit abgeht, nennt Wittgenstein „aspektblind“. Aspektblindheit ist mit Farbenblindheit oder mit „dem Mangel des ‚musikalischen Gehörs’“ vergleichbar. (Wittgenstein 1984, 552) Der Aspektblinde vermag zwar in dem Sinne ein Bild „einmal so und einmal so zu sehen“, dass er auf die Frage, was er sieht, sagen könnte: „Das ist ein Hase.“ Oder: „Das ist eine Ente.“ Es würde für ihn aber nicht der eine „Aspekt in den anderen überspringen“, so dass er ausriefe: „Ah, jetzt sehe ich es als …!“ Der Aspektwechsel kann nur vom Sehenden erlebt werden. Er zeigt sich (uns) durch sein Staunen.