Ach, Goethe!?

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Gute Frage…Es ist mein Vater mit seinem Kind. „Kenn ich,“ sag mein Vater… „Er hat den Knaben wohl in dem Arm.“ Richtig. Gut. Das Langzeitgedächtnis arbeitet noch. „Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.“  „Wen?“  „Na, mich, Vater.“  „Ach?“  „Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?“  „Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?“… Darüber müssen wir beide laut lachen. Wir lachen viel zusammen, mein Vater und ich. Er, ein Erlenkönig mit Kron und Schweif?

Nein. Klein ist er allerdings geworden. Irgendwie verschwindet er in seinen Klamotten. Irgendwann werde ich ihn wohl nur in einer Socke finden können. „Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif,“ ruft mein Vater und ich denke: O, er hat wieder Halluzinationen! „Ängstigen dich die Bilder?“

„Ach, du liebes Kind, komm‘, geh‘ mit mir! …“ „Wohin du willst, Vater… Willst du zur Diagonie?“  „Du meinst das Hotel?“  Vater sagt immer HOTEL, wenn er die Tagespflege meint. „Gar schöne Spiele spiel ich mit dir,“  fällt mir ein. Nee, nee, das Essen in dem Hotel sei nichts. Die Kartoffeln wären da nur so groß wie Erbsen. Gut, das die Beilagen unterschiedliche Farben hätten. Ansonsten würde man das Gemüse nicht auseinander halten können. Darüber müssen wir wieder herzlich lachen. Und das Schnitzel erst. „Die Leute im Hotel glaubten, ich würde sie anlächeln.“  „Nicht?“  „Nein, ich kaute nur schwer auf dem Fleisch herum…“  Witzig, mein Vater. „Mann, das war vielleicht schon lange unterwegs gewesen, mein Sohn.“  „Der Koch war damit wohl vor Jahren in der Küche aufgebrochen.“  „Richtig. An die Sohlen geklebt.“  „So was macht man doch nicht.“  „Und dann auf den Tisch damit.“ „Ekelig.“  „Nein, so etwas macht man nicht.“  Aber er habe mal nichts gesagt, sagt mein Vater. Und fährt fort: „Manch bunte Blumen sind an dem Strand.“ Merkwürdiger Einschub. Den versteh ich jetzt gar nicht. „Und da drüber bauen die einen Parkplatz.“  „Ach, sag…“  „Schon seit Tagen.“ Ich lass mir nichts anmerken. „Gestern haben die dutzende von Autoattrappen da abgestellt, damit es wie ein Parkplatz aussieht,“ sagt mein Vater. Dann blickt er auf meine Schuhe und fragt: „Ist das Hundeleder?“  „Du solltest mal sehen, was passiert, wenn ich mit denen an einer Katze vorbei gehe,“ sage ich.

Und denke traurig: Meine Mutter hat manch gülden Gewand. Vater lächelt zärtlich vor sich hin. Ich bin noch bei den Hundesohlen. Und beim Koch im Hotel… Ich unterbreche die Stille mit: „Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, was Erlenkönig mir leise verspricht?“  „Was? Hat es geklingelt?“ will Vater wissen. „Nein. Das hast du dir nur eingebildet.“  „Gut.“ „Gut.“… (???)  „Ist schon blöd mit so einem weichen Kopf, was, Vater?“   „Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind! In dürren Blättern säuselt der Wind.“  „Weichst du mir aus?“  „Nein! Mutter hat mir alle Schlüssel weggenommen, ich kann nicht weg…Wohin sollte ich auch gehen?“  Er fasst meine Hand. „Willst, feiner Knabe, du mit mir geh’n?“ „Ich bin da, Vater, keine Frage. Verlass dich drauf.“

„Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ Ja, das Langzeitgedächtnis, es funktioniert noch. „Ach, Goethe!? Habe ich in der Schule gelernt…“ „In Potsdam?“  Er nickt. „Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort?“ zitiere ich nun munter weiter. Und fasse dabei meinen Vater an. „Mein Sohn, mein Sohn, ich seh‘ es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau“, ergänzt Vater sofort. „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt.“  „Gewalt? Wie, Gewalt?“ Jetzt bin ich ehrlich gesagt leicht verwirrt. Gewalt? „Mutter hat mich geschlagen.“ „Geschlagen?“  „Weil ich wieder zu langsam war.“ (Sch…) „Als ob ich das extra machen würde.“ „Blödsinn.“  „Aber es ist jetzt wie beim Hasen und dem Igel… Wohin ich auch will, immer ist jetzt einer vorher und schneller da.“ „Mein Vater, mein Vater,“ stottere ich… Jetzt fasst er mich an, er tätschelt meine Hand. „Erlkönig hat dir ein Leids getan!?“  … Dem Vater grauset’s…(???)  „Er reitet geschwind…“ „Wer ?“ „Der Koch.“ „Vom Hotel?“ „Genau! Das Kotelett noch unter dem Sattel.“ „Damit es zäh wird. Wie Hundesohlen.“  „Er hält in Armen das ächzende Kind.“  Wieder eine Assoziation, die ich nicht begreife. „Er erreicht den Hof mit Mühe und Not…“ In Vaters Armen das Kind war…  Ich.

(Auf immer und ewig… Dein Sohn.)