Die Auferstehung der Seiltänzer

„Der Minotaurus soll gehemmt werden in seinen verheerenden Wirkungen.“ Unbekannte haben diesen Satz, ich denke, in der Nacht, denn tagsüber sieht man bekanntlich wenig Graffitikünstler um die Häuser ziehen, in Form eines kunstvollen Graffitis auf der Mauer gegenüber von meinem Ateliers hinterlassen. Mit den Augen fahre ich mit wahrer Begeisterung seine Schwünge ab, tauche hinab in zauberhafte Farbnischen, ziehe mich an eleganten Linien heraus oder lasse mich von Farbspritzern zurück auf den Boden der Realität wirbeln. Das Graffiti hat Recht: Der Minotaurus muss ein Künstler sein!  Denn verheerend sind Künstler ja. Und die Gesellschaft, sie meidet den Künstler. Sein Exil erlaubt dem Künstler im Gegenzug aber seine überaus verheerenden und kühnen Tätigkeiten. Denn nur „wer sich alle Laster abgewöhnt hat, dessen Tugenden verkümmern,“ schreibt zum Beispiel Jean Genet in seinem Text „Der Seiltänzer“. Deshalb spanne ich ja auch in meinem Atelier stets das (Hoch)Seil auf. „Wer, wenn er normal und bei Verstand ist, geht schon auf einem Seil (…)? Das ist zu verrückt. Mann oder Frau? Auf alle Fälle Ungeheuer (…) die Schminke wird es wieder mildern; es ist tatsächlich weit verständlicher, dass ein vergoldetes, bemaltes, kurz ein außergewöhnliches Wesen dort ohne Gleichgewichtsstange einhergeht, während die Flickschuster oder die Notare nie auf die Idee kämen, da hinaufzusteigen.“ (aus Jean Genet: Der Seiltänzer)