Die Mutter mit dem Rosenkranz

Es ist mir, als ob ich nun aus einem dunklen Tunnel ans Licht zurückkehre. Vor mir offenbart sich ein ganz „einfaches“ Bild: „Die Mutter mit dem Rosenkranz“.

Der Rosenkranz der Mutter bestand, wie alle anderen Rosenkränze auch, aus einem Kreuz und 59 Perlen. 55 davon – 50 kleinere und fünf größere – sie bildeten diese ganz besondere zusammenhängende Kette. Eine der größeren Perlen diente als Verbindungsglied zu einer weiteren Kette mit drei kleineren Perlen, einer größeren und einem Kreuz. Über dem Kreuz befand sich eine einzelne große Perle. Wenn wir diese Perle gemeinsam berührten, dann sprachen wir dazu „Erinnerung in Dämmerlicht verglühend / Zittert und loht am fernen Himmelsrand / Der Hoffnung, die geheimnisvoll bald fliehend / Bald wachsend flammt, wie eine Scheidewand.“ Die drei Perlen, die dann folgten, waren ganz besondere: Wir beteten, indem wir sie berühren, je ein „Schwermütiges Sinnen / Wiegt flüsternd mich ein, / Mein Herz zu umspinnen / Im scheidenden Schein“. Fügten aber nach dem Wort „Schein“ gerne noch etwas dazu. Bei der ersten Perle war das vielleicht ein „Fremde Träume“, bei der zweiten Perle ein „Rotflimmernd und weich“ und bei der dritten Perle eventuell zusammenfasend „Endlos durch die Räume / Ziehn sonnengleich / Die Träume über das Reich / Der Heiden und Bäume“. Es folgte dann vor der ersten Perle der zusammenhängenden Kette gerne das „Herbstlied“ von Paul Verlaine und dann sein „Nevermore“. Dies galt auch für die vier weiteren, etwas größeren Perlen des Rosenkranzes. Nach jeder großen Perle folgten für die Mutter zehn „Zu Gott hin dringe deines Lieds verjüngter Klang, / Lass, heis’re Orgel, das Tedeum mächtig tönen“.

Das liebte ich. Je zehn Perlen des mütterlichen Rosenkranzes bildeten ein Gesätz. In einem Gesätz sprachen wir jedes Mal zusammen „Mein weltentrückter Traum ward Wahrheit, es umschlingt / Mein froher Arm das Glück, den Fremdling, leicht beschwingt.“ Wie herrlich war das denn? Oja – dies waren die „Geheimnisse“ des freudenreichen, des lichtreichen, des schmerzhaften, die glorreichen, zugleich aber auch die sehr wankelmütigen Geheimnisse des Rosenkranzes der Mutter.

Einer Mutter, die immer so gerne für mich sang: „Gedanken, Haupt und Herz umspielt vom Abendwind. / Der nächt’ge Hauch zerreisst der Wolken grau Gewimmel / Und kupfern segeln sie, zerstreut im toten Himmel, / Und eines Heil’gen Haupt trifft an dem Domportal / Mit rotem Kuss der Abendsonne letzter Strahl.“ Ich höre sie noch heute. Immer wieder. So hatte sie mir Paul Verlaine und die Kunst ans Herz gelegt. Ich hörte und liebte beides. Auch heute noch. Immer wieder.