Nächtliche Reise um mein Atelier

Süße Einsamkeit. Wehe dem, der nicht einen einzigen Tag seines Lebens allein sein kann.

Es ist Abend. Wenn ich nun müde werde und mir eine angenehme Erholung verschaffen möchte, beschließe ich mein Tagewerk oft damit, dass ich auf eine Trittleiter vor meinem Atelierfenster trete und hinausblicke. Auf seiner ersten Stufe angelangt, sehe ich nur Himmel. So eine nächtliche Reise fange ich gerne um acht Uhr abends an. Ist das Wetter ruhig, dann verspricht es eine schöne Nacht zu werden. Ich schaue bloss…

In der Tat bin ich überzeugt, dass ein wirklich Schauender sehr viele interessante Dinge sieht. Ich blicke nach oben. Wie eine leichte Wolke teilt die Milchstraße den Himmel. Die Betrachtung des gestirnten Himmels hat für mich einen immer neuen Reiz. Ich, ein vergänglicher Zuschauers eines ewigen Schauspiels. Erhebt der Mensch einen Augenblick seine Augen zum Himmel und schließt sie dann für immer?

Warum, so frage ich mich, muss ein Mensch unbedingt auf einen Berg klettern? Weil er da ist? In diesem Augenblick zieht ein Irrlicht am Himmel vorbei und verschwindet fast sofort wieder. Meine Augen, welche die Klarheit des Meteors kurz abgelenkt hatten, richten sich nun, da ich wieder aus dem Fenster blicke, auf einen benachbarten Balkon. Und erblicken dort einen kleinen Damenschuh! Abwechselnd sehe ich auf das Sternbild über mir und dann auf den Damenschuh. Schnell bemerke ich, dass diese beiden Empfindungen von ganz verschiedener Art sind: eine ist in meinem Kopf, während die andere mir in der Gegend des Herzens ihren Sitz zu haben scheint.

Inzwischen ist es Mitternacht geworden! Ich bin nicht abergläubisch, aber diese Stunde hat mir immer eine Art von Furcht eingeflößt. Wenn ich jemals sterben sollte, es sollte um Mitternacht geschehen. Aber warum soll ich überhaupt eines Tages sterben? Ich, der ich mich fühle und mich berühre, ich soll sterben? Nein!

Was, wenn man den stürmischen Winden aus dem Wege geht und die himmlichen Boten überlistet? Angenommen, ich würde einfach von meinem Kurs abgehen und zwei Tage später daheim einlaufen, und man fragt mich: „Wo bist du die ganze Zeit gewesen?“, was sollte ich sagen? „Bin herumgefahren, um dem schlechten Wetter auszuweichen“, wäre meine Antwort. „Das muss aber verdammt schlechtes Wetter gewesen sein“, würde ich mit Sicherheit spöttisch als Antwort erhalten. „Ich weiß nicht. Ich bin dem Wetter ja ausgewichen!“ Wie dem Sterben. Dem Tod.

Plötzlich, da: Ein Passant! Geht durch das Bild ohne zu halten. Bei der Ecke am Bordstein steht eine Tonne. Eine Regentonne, denkt man. Gehört sicher zum Bau. Jemand tritt ins Bild und…

– auch er läuft vorbei. Nein, nicht ganz. Jetzt bleibt er stehen, sieht sich um. Zögert… Dann geht er weiter. Geht aus dem Bild. Die Regentonne! Ich weiß, sie ist mit schwarzem Wasser gefüllt. Da treibt ein Stück Holz. Ich habe es selber gesehen. Ein kleines Stück Holz auf dem schattigen Wasser. Manchmal bewegt es sich. Unmerklich fast.

Ich werfe noch einen letzten Blick aus meinem Atelierfenster auf die Straßenecke der Stadt. Sie ist menschenleer. Menschenleer wie der Balkon mit dem Damenschuh. Dann singe ich ganz verträumt zu mir selbst: „Now it’s time to say good night / Good night sleep tight / Now the sun turns out his light / Good night sleep tight / Dream sweet dreams for me / Dream sweet dreams for you! Because… Ev’rybody had a hard year…

Ev’rybody had a wet dream… Oh yeah.“

(Texte aus/nach: Xavier de Maistre „Die nächtliche Reise um mein Zimmer“, Patrick Roth „Zur Stadt am Meer“ ,sowie Joseph Conrad „Taifun“. Liedzeilen von THE BEATLES „Good Night“ und „I’ve Got a Feeling“)