Die Stirn eines Besessenen

(Mein Zeichenlehrer, Herr Peter Schmitz, war stets davon überzeugt, dass sehr gute Arbeiten die Zeit überdauern werden. Und er hat recht behalten. Meine Zeichnungen zu Gedichten von Georg Trakl, die ich für mein Diplom anfertigte, sie besitzen auch heute noch ihre Kraft.)

„Ich bin ganz Totem und Tabu“ oder „Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“.

Die Texte Sigmund Freuds zu „Totem und Tabu“ versuchen, frühe Fundamente der Kultur aus Prozessen der menschlichen Psyche herzuleiten. Die Prämisse hierfür ist, dass die Grundzüge auch der „modernen“ Gesellschaft um 1900 aus „primitiven“ Vorformen ablesbar sind. Die notwendigen Daten dafür liefert die Ethnologie: So seltsam die Bräuche der exotischen Kulturen auf den „zivilisierten“ Betrachter der Zeit wirken, so sehr lassen sich aus dem vermeintlich Fremden auch Rituale der eigenen Kultur ableiten, denn die menschliche Psyche funktioniert universal nach denselben Regeln. Allerdings setzt Freud die Angehörige der „primitiven“ Kulturen nicht schlechthin dem modernen Menschen gleich. Das verrät schon der originale Untertitel des Buches: „Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker“.

In der Entwicklung des einzelnen Individuums wiederholt sich die seiner ganzen Gattung. Die „primitiven“ Stämme anderer Kontinente repräsentieren damit eine frühere Stufe unserer eigenen „Hochkultur“. Und wenn die westliche Kultur um 1900 für den „erwachsenen“ Zustand des zivilisierten Menschen steht, so lautet der Umkehrschluss, dann ist der „Wilde“ ein Kind. Aus heutiger Sicht ist sicher vieles an Freuds Ansatz zu kritisieren: Zum einen ist die Gleichsetzung von „Wilden“, Kindern und Neurotikern problematisch. Aber auf eine bestimmte Weise untermauern bei Freud Psychoanalyse und Ethnologie einander: Freuds Diagnosen an Individuen im Wien der Jahrhundertwende liefern Mechanismen, mit denen sich das kollektive Verhalten noch der fernsten Völker erklären lässt. Umgekehrt scheinen die ethnologischen Befunde eine universale conditio humana zu demonstrieren. Auch das pathologische Verhalten des Einzelnen ist damit anthropologisch grundiert.