Schon dreht sich Camass meiner melancholischen Ferne entgegen, wissend, dass sie diese auflösen wird.
Je näher ich dem Tod komme, umso lebendiger wird sie.
Änderungen. Vieles verändert sich… in mir. Etwas aus längst vergangenen Zeiten berührt mich, kein Frösteln, kein schamhaftes Wegschauen, ich fühle mich gut dabei. Frei. Das ist wohl das Sterben und das Leben in der Gegenwart… früher mal bekannt als KUNST. Bilder, Texte, Zitate, Linien, Worte, Traumfetzen, sie umwehen mich: Eine offene Kunst, Abgesperrt vom Weltgewimmel / Nur mit einem Streiflein Himmel… in der Hand. In meinem Herzen.
Es existiert kein Unterschied, ob ich behaupte, ich bewege mich fort oder ich bleibe an Ort und Stelle auf ewig stehen. Denn meine Uhr tickt, egal wo ich bin, immer gleich schnell. Nur die Umherstehenden, diejenigen, die mich beobachten, sie bemerken Unterschiede. Sie attestieren mir äußerst selbstsicher, aus ihrer Perspektive betrachtet, dass meine Uhr langsamer ablaufe. Ich ticke in ihren Augen und Ohren nicht richtig, geben sie zu Protokoll. Oder noch extremer: ich sei aus der Zeit gefallen. Bloss wohin?
Camass, ich stehe hier frierend in deinem goldenen Garten / Habe meine Leiter an deine Wand gelehnt / Heute Nacht ist die Nacht, in der wir gemeinsam weglaufen wollten / Aber jetzt erzählst du mir das & Ich denke, wir sollten besser bis morgen warten…
I think we better wait till tomorrow *
(* Jimi Hendrix)
Für eine Existenz wie dich, liebste Schwester, haben unsere Sinneserfahrungen keine Antennen ausgebildet. Dein Tot-Sein vor einem Leben erscheint uns geradezu unlogisch. Wir haben uns als Lebende so sehr daran gewöhnt, dass der Tod erst das Ende unseres Lebens darstellt. Doch bei dir war und ist es gerade umgekehrt. Der Tod war dein Anfang.
Uns Lebenden erscheint es falsch zu behaupten, dass Tote für uns eine reale Rolle im Leben spielen sollen und können. Aber das tun sie. An jedem Tag.
Aus diesem Grund bittet Camass mich immer wieder: „Bruderherz, zeige mir, wie es ist als Mensch zu leben.“ Bestimmt schreibe ich seit Jahrzehnten deshalb auch Tagebuch. So korrespondieren wir über den Tod hinaus… Denn in den Tagebüchern verweben sich unsere Stimmen zu einem einzigen Faden, der sich durch die Unendlichkeit zieht.
Etwas zur Sprache zu bringen, ist wie etwas zur Welt zu bringen… vor allem (s)eine ganz eigene Identität.
Camass war von ihrem Unglück satt, als sich ihre Schmetterlingsflügel blau verfärbten, in einer schwindenden Helligkeit…
Mir selber sollte Blau meine Totemfarbe werden, darin ich mein Leben verändern konnte oder zurückerobern von meinen Mitmenschen, die gegenseitige Abhängigkeiten auslegten mit dem faden Geschmack von Gefängniswärtern.
Von jenseits der Gefängniswand vernahm ich die Stimme von Camass. Ich vermochte diese aber erst zu Bildern zu formen, nachdem ich gelernt hatte, Bienen, Schmetterlinge und Kolibris als die Zugtiere meiner Phantasie und Kunst zu begreifen, ein Geschirr aus Legenden, Sagen und Mythen.