Ein Bild der Erkenntnis

Die Zeit ist wirklich verrückt. Sie zermürbt mich auf eine ganz eigenartige Art und Weise. Der Dichter Friedrich Hölderlin formulierte es so: „Hab` ich Armer nicht genug gelitten? / Sie ist hin- des Kämpfers Kraft.“ Okay, werden Sie sagen, Hölderlin war am Ende seines Lebens irre geworden. Aber warum? Woran? Kannte er vielleicht kein kleines italienisches Eis-Café in seiner Nähe? Kein Café, in dem er sein überhitztes Gemüt hätte kühlen können? Jedes Eis-Café ist für mich absolut systemrelevant, weil dort windige Gesellen, schlüpfrige Gestalten und Schiffbrüchige des Alltags, also Künstler, angespült werden, die sehr merkwürdigen Beschäftigungen nachgehen. Sie tun nichts. Nicht sichtbar jedenfalls. Nirgends im Café wird eine Aktennotiz gemacht, Alimente ausgerechnet oder verschoben. Irgendwer stochert vielleicht in einem Buch. Ein Anderer liest aus einem Kuchen. So wie in den letzten Wochen, Tag für Tag, schreibe ich mich hier auf meinem Blog aus meiner Lebensfurcht heraus. Und träume davon, ich säße gerade jetzt in einem Café vor einer Tasse Cappuccino. Stattdessen ziehe ich mich an meinen Sätzen aus einem Labyrinth der Gefühle zurück ans Tageslicht einer Realität, die mir angemessen erscheint. Oder mir so erscheinen soll. Lachen Sie ruhig, Außenseiter, wie wir Künstler nun einmal welche sind, wurden immer schon schief angesehen und teilweise sogar arg malträtiert. Wie Besessene wurden wir in Wannen mit Eiswasser getaucht. Man sperrte uns in muffige Schränke. Verfrachtete uns, so wie den Kollegen Hölderlin, in einen Narrenturm. Oder verwehrt uns nun schlicht die finanzielle Soforthilfe. Gut, wer ist auch schon Hölderlin? Nicht systemrelevant. Weg mit ihm! Die freie Kulturszene hier in Wuppertal, wo ich wohne? Ich selber? Weg, weg, damit! Die Kunst wird abgeschafft. Nicht systemrelevant. Also weg! Armenhäuser, anstelle von meinen so geliebten Eis-Cafés, werden gebaut und die Künstler werden dort einziehen müssen. Am Ende wird niemand von uns mehr sagen können, wer ärmer dran ist. Die Verarmten oder eine Welt ohne Kultur? Unsere Stimmen sind dann verweht. Nachdenklich geworden, mache ich ein Selfie mit meiner alten Sofortbildkamera. Das Bild was sich da vor mir entwickelt, es beunruhigt mich ein kleinwenig.

Geliebtes Zwitterwesen

Das Ich bei Franz Kafka, habe ich einmal irgendwo aufgeschnappt, sei ein Zwitterwesen, weil es einerseits die Figur in der Geschichte und zugleich aber auch den Erzähler der Geschichte selbst darstellt. Eine Grenze zwischen wirklich und unwirklich würde hier verwischt. Ist das nicht generell bei wahrer Kunst so? Ich meine, der Künstler als ein Zwitterwesen? Der Willensdrang von zwei Wesen, in einem vereint. Und niemand hohnschreit: Obszönität! Ein klares Ich zwischen Mann und Frau angesiedelt.

Ein „schöner Hermaphrodit“. Bei dem Philosophen Michel Foucault fand ich diesen Begriff. Foucault bezog ihn auf die Kombination von Malerei und Fotografie. Dort wo Malerei allein nicht mehr reicht und Fotografie an ihre Grenzen stößt, entstehen in ihrer Verschmelzung „schöne Hermaphroditen“. Dieses Bild hat mich sofort sehr beeindruckt. Dort wo Fotografie ein selbstverständlicher Teil der Malerei und Fotografie als ein selbstverständlicher Teil der Malerei angesehen wird, entsteht ein schöner Hermaphrodit. Dort wo Bilder mit einem Text verschmelzen, entstehen meine Hermaphroditen. Die kleinste Einheit ist nicht ein Mensch, sondern zwei Menschen. In einem. Zwei Gegensätze in einem vereinigt. Die widerspenstige Zähmung von Gegensätzen und -bildern in einem Spiegel in einem Spiegel in einem Spiegel… bis in die Unendlichkeit gespiegelt.

Das bin ich. Ein Zwitterwesen.

Kümmere dich (nicht) um ungelegte Eier!?

Mein ganzes Leben gleicht einem Überraschungsei. Manchmal beinhaltet es zwar einen arglistigen Virus, was ärgerlich ist. Aber meist befindet sich im Inneren des Eies in einer geheimnisvollen Verpackung eine Figur, die doch verdammt nochmal sehr nach mir aussieht. Und mich durchaus amüsiert.

Ähnlich wie bei Briefmarken, habe ich im Laufe meines Lebens erfahren, gibt es auch bei den Überraschungseiern Preiskataloge, die jährlich aktualisiert werden, um Sammlern eine grobe Orientierung zu geben, wie viel ihr eigenes Ich wert ist. Allerdings gilt dieser Wert nur als grober Richtwert. Der realistische, manche meinen auch, systemrelevante Marktpreis liegt je nach Alter und dem Beruf der Figur in etwa bei 30–60 % des Katalogpreises und wird in der Regel frei ausgehandelt. Das ist natürlich größter Blödsinn! Und Statistiken sind die Huren der Mathematik. Mein Leben ist unbezahlbar. Und die Kunst ein Lebenssynonym? Oder ein Broterwerb? Wäre ich wirklich gezwungen, mich zwischen den beiden zu entscheiden, ich würde immer wieder mein Leben wählen.

 

Um Jahrhunderte zurückgeworfen

Wer nicht weiß, was er zur Coronakrise malen soll und zudem keine Lust auf doofe Blumenmuster hat, der wird sich über meine herrlichen Ausmalmotive für Fortgeschrittene (Künstler) freuen.

Solche Motive können helfen, loszulassen und vom Alltagsstress abzuschalten. Dies sei gar nicht so dumm, bestätigten mir unlängst Psychologen der Anstalt Bless-Hohenstein.

Die Erde ist bekanntlich ja auch eine Scheibe. Meine Oma bewahrte diese immer in ihrem Schlafzimmerschrank unter der gebügelten Nachtwäsche auf. Oma erklärte mir: Habe der Künstler seine Füße / In ein Moorbad stecken wollen / Habe man seine Arme / Mit heißem Sand massiert / Habe er singen wollen / Sei ein Pfleger mit dem Essen erschienen / Habe er essen wollen / Sei ein allgemeines Andachtslied über die Hausanlage / In alle Zimmer hineingespielt worden / Dies alles / Habe ihn / Den Künstler / Um Jahrhunderte zurückgeworfen… (nach Hanns Dieter Hüsch; Hagenbuch)

Studien zu „Die Schlafenden“

Gefühlt beginnt gerade fast jede Nachricht seit Wochen mit: Es sind schwierige Zeiten. Gefolgt von: Das Coronavirus – Wissen und Verstehen. Verstehen? Was verstehen?! Bildgedanken, die sich um das Ausgeliefertsein drehen? Um Isolation und Leiden am Unbenennbaren? Die Reizflut der Jetztzeit?

Wie in den vergangen Tagen kommen mir auch heute wieder Bilder von Francis Bacon in den Sinn. Warum nur? Wieso drängten sich mir gerade seine Bilder auf? Eine mögliche Antwort auf diese Frage wäre, auch ich atme beim Lesen stets Stimmungen ein und hauche sie dann wieder in meinen Bildern aus. In einem im Atelier herum liegenden Kunstmagazin schnappe ich folgendes Zitat auf: “Der vollkommene Maler muss imstande sein, sein bestes Bild zehnmal hintereinander abzukratzen und neu zu malen, um zu beweisen, dass er weder von seinen Nerven noch vom Zufall abhängt.“ Das gefällt mir. Schön formuliert. Wer sagt denn, dass Maler nicht über ihre Werke sprechen können? Ähnlich wie Francis Bacon, so behandle auch ich Malerei und Text niemals als sich streitende Konkurrentinnen, sondern sehe sie vielmehr als beste, sich liebende Freundinnen an. Obwohl das obige Zitat gar nicht von Francis Bacon stammt. Gustave Courbet hat das gesagt. Aber so bringe ich die beiden Künstler jetzt ganz leicht an meinen Ateliertisch zusammen. Ihre sehr unterschiedliche Kunst und ihr Denken inspirieren mich zu dem heutigen Bild.

Heiter ist das Leben, ernst ist die Kunst (oder: „Der verdrehte Schiller“)

Die Einbildungskraft ist nichts Natürliches. Sie generiert sich vielmehr durch Lernprozesse. „Alles reduziert sich auf Laute oder Wörter, die aus dem Mund des einen in das Ohr des anderen und sein Gehirn gelangen, das gleichzeitig durch die Augen die Gestalt der Körper aufnimmt, wofür diese Wörter die willkürlichen Zeichen sind.“ Das Denken ist eine „Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist.“ (Zitiert aus „Der Wille zur Lust“ von Svenja Flaßpöhler)

Der Wahnsinn

NRW, Deutschland – Obwohl die Neuinfektionen mit Corona in NRW weiter steigen, hält die Landesregierung daran fest, den Menschen wieder etwas größere Freiheiten zu gewähren, berichtet RUHR24.de. „Im demokratischen Rechtsstaat ist es selbstverständlich, den Menschen ihre Freiheitsrechte zurückzugeben“, so NRW-Ministerpräsident Armin Laschet. Grundlage dafür sei die konsequente Nachverfolgung der Kontakte infizierter Personen, damit die Pandemie weiter im Griff behalten werde. Unter dieser Voraussetzung könnten weitere Lebensbereiche geöffnet werden, so Laschet in einem Pressestatement am Donnerstag (30. April). Alle 54 Gesundheitsämter in NRW wurden zu diesem Zweck ausgebaut. Alles schön und gut, denke ich bei mir. Aber warum sollte ich wieder raus gehen wollen, mein Zimmer, mein Atelier verlassen, wenn es da draußen weiterhin Schweinsrouladen gibt, die offensichtlich noch von der großen Liebe träumen?

Das Ende ist doch immer Verzicht. Wir glauben und hoffen und denken, dass einmal ein Wunder geschieht. Doch wenn wir uns dann verschenken, ist es das alte Lied: Nur nicht aus Liebe weinen, ihr armen Schweine. Es gibt auf Erden nicht nur das eine. Es gibt so vieles auf dieser Welt: Kunst! Kunst! Kunst! Wirklich, ich liebe alles, was mir gefällt. Es müssen wirklich keine Schweinsrouladen sein, selbst wenn sie sich noch dazu als Kalbsrouladen getarnt hätten, um mich wieder ins Freie zu locken. Ich bleibe lieber bei meiner Kunst.

Der Wille zum Bild

Die heutige (Kunst)Geschichte hat das moderne Bild mundtot gemacht, bedauerlicherweise zum Schweigen gebracht. Ich fand dieses Vorgehen von jeher sehr bedauerlich. Mir geht es in diesem Punkt wie Giacomo Casanova, der behauptete, es hätte für ihn keinen Sinn gehabt mit einer Frau zu schlafen, mit der er sich nicht auch hätte unterhalten können. Mir geht das mit Bildern ähnlich. Mit einem Bild, das nicht mit mir reden will, würde ich auch nicht ausgehen wollen. Ich bin einfach kein Künstler nur für eine Nacht.

„Die Neurose ist dadurch charakterisiert“, flüstert mir zärtlich mein Bild ins Ohr, „dass sie auf Gedanken ebenso ernsthaft reagiert, wie das die normalen Menschen auf die sogenannte Wirklichkeit tun.“ „Ach, ist das so?“ will ich wissen. „Aber wie wirklich ist denn die Wirklichkeit nun wirklich?“ „Wirklich interessant“, diagnostiziert mein Bild. Und küsst mich auf mein erregtes Herz.

Der Wille zum Text

Bilder sollen Wunscherfüllungen in Szene setzen. Bilder sollen (und wollen) ihren ureigenen Wunsch beim Wort nehmen! Sie sollen alles rauslassen, rasend vor Glück oder Wut, und in ihrer ureigenen Sprache in den Raum hineinragen lassen. Dort, wo der Text sich dann zu einem Bild von sich selber verfestigen kann. Bilder sind zugleich immer nur Annäherungen an einen anderen Text, den wir Menschen ihnen hinreichen wollen…

Wie eine Opfergabe. Auf allen vieren kriechend, schieben wir unseren Text auf die Bilder zu. Wollen wissen, ob unser Text richtig sei. Er soll abgesegnet werden. Das Bild sieht unser Bemühen und lächelt uns milde an. Eine Struktur ohne Zentrum nennen wir das Bild. Undenkbar sei es. Ein Platzhalter für etwas Unausgesprochenes. Eine Loslösung von der Marktschreierei. Aber jedes Bild ruft seine eigenen Geister an, die das Bild dann wiederum in seinem Denken auf ganz unvergleichliche Weise zu inspirieren vermögen. Die Bilder sind eben nicht von allen guten Geistern verlassen. Im Gegenteil. Sie lassen sich von ihnen küssen. Sie lassen sich befingern. Sie lassen sich gerne unter die Zunge der Geister legen. Texte die vereinfachter als das hier aufgeschrieben würden, sie wären falsch. Und würden keinem Bild gerecht werden können. Solche einfachen Texte würden einem Bild keinen Atem zum Leben schenken.