Schwanenbeichte

Was genau ist die „Schwanenbeichte“  ***  Sie ist ein Lebensbericht an fiktiven Schauplätzen. Sie handelt von Artisten, Possenreißern, Ameisen und anderen liebenswerten Dingen. Eine Collage aus Quecksilbertröpfchen…

(für die Künstler unterhalb des Olymps)

Ein Zirkus kam in die Stadt. Alle Welt ging hin. Das Feuilleton der FAZ sowie „DIE ZEIT“ brachten große Artikel über dieses epochale Kunstspektakel. Die wichtigste und weltgrößte Manege. Das musste man einfach gesehen haben! Wer dort nicht auftauchte, der gehörte nicht dazu. Der existierte überhaupt nicht. Wer hier nicht erscheinen wollte, der hätte sich mutwillig in eine Ecke verkrochen. Das meinten die führenden Kritiker. Niemand, der wahren Meistern bei der Arbeit sehen wollte, dürfte sich außerhalb dieser Manege bewegen.

Selbstverständlich ging auch ich hin und war gespannt auf das Spektakel! Der Zirkus war auf ständiger Welttournee und mit mehr als 1800 Personen unterwegs. 450 Sattelschlepper transportierten alles von Ort zu Ort: Personen, weiße Elefanten und Katzen. Eine Unmenge von Katzen zählte zum Inventar des Zirkus. Lebendige, wie auch tote! Zahlreiche Selbstdarsteller bildeten den übrigen farbigen Tross. Illusionisten. Kavalleristen. Bogenschützen. Polizeioffiziere in bizarren Uniformen. Gaukler und Soldaten. Possenreißer. Letztere bezeichnete man gerne als die vollkommensten Ästheten und gleichzeitig, so tuschelte man aber auch, die hemmungslosesten Frauenhelden, die versiertesten Wortverdreher.

Ein Possenreißer war einer, der unablässig an seinem Image bastelte. Bei Tag, als auch bei Nacht. Possenreißer waren eitel und verbreiteten die abenteuerlichsten Geschichten. Es waren Blender der Extraklasse. Und der Zirkusdirektor war der absolut beste von ihnen allen! In der Nacht wurde mit der ganzen Bagage gereist. Kopfüber in die tiefste Dunkelheit hinein. Die grünschwarze Nacht zuvor war angefüllt mit Rauschzuständen jeder erdenklichen Art. Der Zirkus war ein Ritual, das sein monströses Spiel in der Öffentlichkeit entfalten musste. So wie ein Schmetterling mit Totenkopfsymbolen gerne seine Flügel der Sonne präsentiert.

Nach dem obligatorischen Katerfrühstück am Morgen, zog der Zirkus mit einer stolzen Parade in die jeweilige Stadt ein. Strahlend lächelnd präsentierte man sich vor einem schaulustigen und zahlenden Publikum. Alle Artisten marschierten auf der Parade mit. Arme Sünder auf einem Karren stehend, der behängt war mit silbernem und goldenem Geschmeide. Polizisten in göringhaften Uniformen eskortierten die Parade. Alles und alle zogen zum öffentlichen Platz des großen Marktes. Dort sollten die Kunsturteile vollstreckt werden.

Ein Orchester betäubte die Ohren der Umherstehenden mit der Musik moderner Komponisten. Oft klang es, als würde Carl Spalling, der Komponist der Bugs Bunny Filme,den Roman „Justine“ von Marquis de Sade vertonen. Hunderte von Ballettdamen in schwarzem S/M-Outfit stolzierten durch die Straßen. In hochhackigen Stiefeln, Strapsen und engsten Korsagen. Als heilige Ungeheuer eines heimlichen Alltags ließen sie die Augen der Schaulustigen trübe werden.

Objektwagen mit fast gespensterhafter Dekoration wurden durch die Stadt gezogen. Um dann sofort durch sämtliche Medien bejubelt zu werden! Der Zirkus protzte durch unzählige Podien und ebenso viele Bühnen. Jede Menge von Sitzplätzen war für die Reichen und Schönen bereitgestellt. Der Zirkusdirektor, hauptsächlich in Schwarz gekleidet, jedoch durch eine Reithose mit Leopardenmuster besonders herausgeputzt, holte sich die Top 100 der Kulturrevolutionäre in seine riesige Manege: Volksverdreher. Possenreißer. Maler. Bildhauer. Conzept-Ideologen mit eisernen Halsketten. Murakamis in buntscheckigen Gewändern. Extra-large-Protakonisten mit Eisenkugeln an den Füßen.

(wird fortgesetzt… )

Schwanenbeichte

Der Arzt stockte nur kurz. „ Sagen Sie doch bitte den Eltern, dass sie einen Künstler zur Welt gebracht haben. Aber bringen sie es ihnen schonend bei. Es wird ein Schock sein. Erst diese komische Geburt. Und dann das auch noch!“ Die Stimme des Arztes klang irgendwie sehr traurig. Heimlich blinzelte ich mit einem Auge. Und sah, dass er sehr nachdenklich zu mir hinabschaute.

„Es wird für die Eltern ein Schock sein. Gewiss,“ versicherte die Krankenschwester. Sie zupfte an der Decke des Bettes herum. Nahm danach die Flasche Mineralwasser in Augenschein, die auf dem Tischchen neben dem Bett stand. Die Flasche war noch voll. Die Schwester stellte sie nur zur Seite und ordnete flugs Becher, Bücher und eine Zeitung,die ebenfalls auf dem Beistelltisch herumlagen.

„Aber, Herr Doktor, Sie wissen so gut wie ich, dass eine Bild- oder Tonstörung nur lange genug dauern muss um ein Eigengewicht zu bekommen.“ Der Arzt schaute irritiert auf. Dann schmunzelte er. „Künstlertum als Bildstörung. Als Sinnestäuschung. Dieser Vergleich gefällt mir.“

Aus dem Augenwinkel heraus konnte ich sehen, wie das Gesicht des Arztes sich aufhellte. Er schien nun mich anzulächeln. Gerne hätte ich zurück gelächelt. Aber ich wollte meine Tarnung nicht preisgeben. „Schreiben wir also ein Zettelchen auf dem –KÜNSTLER- vermerkt ist. Das hängen wir dem Kleinen an sein Ärmchen,“ ordnete der Arzt an. Die Schwester holte ein vorgefertigtes Bändchen mit einem daran baumelnden Zettelchen aus einer Schublade. Dieses befestigte sie an meinem Handgelenk. Augenblicklich packte der Arzt die Krankenschwester jedoch an der Schulter und sagte: „Nein! Ich korrigiere mich. Keinen Begriff. Keinen Namen. Keine Stigmatisierung schon jetzt. In einem so jungen Alter. Warten wir es ab. Lassen wir ihm Zeit. Wahre Geschichten leben schließlich davon, dass irgendwo irgendetwas fehlt. Und sei es nur ein winziges Zettelchen. Ein fehlender Begriff ,der gerade deshalb die Aufmerksamkeit erregt. O, wie gut das niemand weiß… Sie wissen was ich meine.“ Dann griff er zu einem Kugelschreiber und machte einige schnellen Kürzel auf meinen Beipackzettel. Die Krankenschwester sah ihm zu und nickte stumm mit dem Kopf.

Sie und der Arzt gingen in Richtung Tür. „Er wird es schaffen. Glauben Sie mir,“ hörte ich den Arzt sagen. „Ich glaube auch,“  sagte die Krankenschwester. Dann schloss sich leise die Tür hinter den beiden Personen.

Mir war ganz heiß geworden…

Künstler. Was für ein wundersames Wort.

Schwanenbeichte

Zum eigenen Geleit: Beobachtungen an zwei gleichzeitig aufgestellten Spiegeln galten schon immer als eine ungewohnte Erscheinung. Sie schienen für den Menschen von jeher mehr als nur ungeheuer interessant zu sein. Doch was würde bei vier bis fünf gleichzeitig aufgestellten Spiegeln geschehen? Was für eine vielfache Symmetrie konnte in diesem Augenblick entstehen? Kunst? Und wenn, sollte man sie dann versuchen zu erklären? Aber wie?

Alles veränderte sich ständig.

Das Fallbeil eines vernichtenden Urteils trennte in der Millisekunde eines Blitzschlags die Sonne vom Himmel! Vor den Mond schob sich ein smaragdgrüner Falter. Das Nachtgestirn wurde mit Trauerflor verhängt. Niemand sollte sein Gesicht mehr sehen. Am Boden zurück blieb der verwaiste Sonnenwagen, einst gezogen von sechs weißen Ameisen. Ach, die Wahrheit der Bilder…

Drehte man die Spiegel des Kaleidoskops indes weiter, dann…

Ein kleines Haus in der Provinz. Es trug meinen Namen. Aber das wusste ich nicht. Zudem stand mir momentan auch nicht der Sinn danach, um über die Bezeichnung von Häusern nachzudenken. Egal auf welchen Namen sie hören würden. Ebenso egal war mir ihre Bedeutung. Wären mir zum Beispiel die Hausbesitzer bekannt gewesen, die exakte Form des Hauses, der Ort wo das fragliche Haus stand, dann konnte ich das Haus als ein Symbol des Jenseits ansehen. Und den Besitzern würde es dort ergehen, ihnen würden Dinge widerfahren, die exakt in Bezug zur Geräumigkeit oder Enge, sowie Ausstattung ihres Hauses stünden.

Einfacher formuliert hieße das wohl: Großes Schlafzimmer gleich großes Glück! Oder Unglück. Je nachdem, mit wem man sich im Bett vergnügte. So hätte ich es formulieren wollen. Aber wer war ich schon? Solche tief schürfenden Überlegungen, über mich oder die Symbolhaftigkeit von Häusern, ob sie auf meinen oder andere Namen hörten, waren mir gerade, ich muss es gestehen: völlig egal!

Der Grund dafür mochte wohl daran liegen, dass ich gerade damit beschäftigt war, extrem katzbuckelnd, meinen Mageninhalt in das hohe Gras einer Wiese zu erbrechen, die sich weit um das kleine Haus erschreckte. Liebend gerne hätte ich diese beschämende Tätigkeit als hohe Kunstform definiert. Nur fehlte mir dazu die nötige Kraft. Und die richtige Muße.

Kotzen als einen skandalösen Witz zu umschreiben, dies fiel mir einfach nicht ein. Nicht im Moment. „Kotzen,“ würde ich später, bei passender Gelegenheit, liebend gerne als eine Fähigkeit beschreiben, die anerzogenes, tugendhaftes Verhalten in Frage stellt. Künstlerisch betrachtet, meine ich!

„Dahinter, ich meine das Kotzen, verbirgt sich das Kalkül des Künstlers durch hemmungsloses Überzeichnen seiner Unbeholfenheit eine moralische Panik zu erzeugen.“ So würde ich es darstellen wollen. Nur jetzt nicht.

Wie, so fragte ich mich lieber, zwischen den einzelnen Auswurfphasen meines Magens, wie und warum war es mit mir soweit gekommen? Sollte dies der Grund meiner Existenz sein? Ein kotzendes Individuum auf einer Weide? Kann man nicht unverkrampfter über Dinge nachdenken? Ohne dabei gleich so geschmacklos zu werden?

Schwanenbeichte

Alles Abnorme musste ausgegrenzt werden. Entweder zum Zirkus, lautete die Devise, oder ins Kellerloch. Die Frage war bloß: Wohin gehörte ich? Gehörte ich zur Zunft der Possenreißer? War ich ein ebensolch eleganter Exzentriker und Wortverdreher wie zum Beispiel ein Zirkusdirektor? Oder war ich schlicht ein Narr? Ein kindliches Gemüt?

Ein Narr hatte kein Gewicht. Er war eine Feder im Sturm des Geschehens. Seine Andersartigkeit machte jeden Narr, selbst wenn er von seinen Eltern abgöttisch geliebt wurde, zum Außenseiter. Er war stets allein. Selbst im Kreis liebster Freunde. Und er blieb es zeitlebens, denn sein Unglück wollte es, dass er als Narr nie erkennen konnte,wenn ein anderer Narr vor ihm stand.

Der Narr war und blieb ein verlachter Seher. Seine Wahrheitssuche wurde ihm als Geschwätz ausgelegt und vorgeworfen. Das Publikum tolerierte den Narren, verurteilte ihn aber dafür, dass der Narr den Possenreißer kritisierte. Der Narr durchschaute nur zu gut das Spiel des Possenreißers, der an einer mit Diamanten besetzen Leine einen Pudel spazieren führte, der aus verchromten Luftballons geformt war. Der Narr wusste, dass dies das Publikum in Verzückung geraten ließ. Das Publikum glaubte einen Hund zu sehen, sah sich im spiegelnden Metall aber nur selber an. Diese Täuschung missbilligte der Narr.

Doch war er in Wahrheit kein Gegner oder Feind des Possenreißers. Ebenso wenig war er allerdings auch kein Verbündeter von ihm. Und deshalb hassten ihn die Possenreißer genauso, wie das Publikum sich von ihm abwendete. Für das Publikum war der Narr bloß ein armer Idiot!