Ein neues Jetzt

Falls es jemals ein Gestern gab, so hat es sich meinem Zugriff vollends entzogen. Es existiert nur ein Jetzt, das mich definiert. Ein Augenblick, der sich grenzenlos auszudehnen vermag und gleichzeitig auf ein Nichts zusammen schrumpft. Ich schnippe mit meinen Fingern und ein neues pulsierendes Jetzt entsteht. Ich ist stets ein anderer, haben die Dichter dieses Phänomen beschrieben. Und jedes Ich besitzt sein eigenes Jetzt. Mit unzähligen Geschichten und Andenken. Je älter ich werde, umso mehr stelle ich in meinem Jetzt die Erinnerungen in Frage, die sich in mir angesammelt haben. Woher kamen sie? Gehören sie alle zu mir? Sind sie wahr oder bloße Hirngespinste? Zuflüsterungen, denen ich mich einst entziehen wollte? Die ich dann aber nur allzu gerne verinnerlichte und ihnen Glauben schenkte.

Bin ich tatsächlich dem Meer entstiegen? Bei meinem ureigentlichen Anfang spielte Nässe jedenfalls eine entscheidende Rolle. Alles was ursprünglich war, war feucht. Diese grenzenlose Anwesenheit von Wasser definierte nicht nur mich selbst, sondern zugleich auch den Raum um mich herum. Ich selber war dieser Raum, angefüllt mit erregender Nässe. Aus der Feuchtigkeit heraus erhoben sich kleine Wassertröpfchen. Zunächst drückten die Tropfen sehr langsam und behutsam ihre durchsichtigen Buckel nach oben, bevor sie sich dann endgültig, mit einem Körper, den sie auf einer Seite zu einer Spitze verformt hatten, sich von einem Nichts abstießen, um dann quer zum Raum an mir vorbei zu fliegen. Millionenfach vollzogen die Tröpfchen auf diese Art ihre Geburt und verwandelten sich in einen Nebel, der sich vor meine Sinne schobt. Wegen der völligen Windstille, die um mich herum herrschte, sanken die Nebeltröpfchen ab und schlugen sich allmählich in und auf meinem Ich nieder.

Jetzt.

Der mächtigste von allen Herrschern sei der Augenblick, heißt es. Meine Augen sind auch heute noch mit diesen Nebeltropfen überzogen. In jedem bricht sich das Licht der Zeit, dessen Farbspektrum bekanntlich von Rot zu Violett bis in alle Ewigkeit reicht.