Erste Aufzeichnungen

„Hörst du?“ „Für einen Moment glaubte er, so könnte das Sterben sein, alles passt sich dem Atem an, verliert langsam an Dichte, fängt an zu schweben und verschwindet.“ (Arno Geiger) Was für ein schönes Zitat. Ich musste es mir und Camass sofort aufschreiben. So wie ich ihr in letzter Zeit viel geschrieben hatte, u.a.: „Camass, wir sind Dizygote. Liebste Camass, das bedeutet, wir entstanden aus zwei verschiedenen Eizellen. Bei unserem Aussehen ist das nur allzu schnell verständlich. Du kamst als ein Schmetterling, ich dagegen wurde als Künstler geboren, als ein Frosch, also als jemand, den kein Mensch gerne küssen wollte. Jeder von uns Beiden hatte sein eigenes genetisches Material. Und war ein völlig individuelles Geschwisterkind. Aber nicht nur das. Du warst eben ein Schmetterlings und du flogst uns sofort davon. Du unterschiedst dich also in einem noch wesentlicheren Punkt von mir: du warst von Anfang an tot. Camass, wer hätte das verhindern können? Hatte denn niemand gehört, das unsere Herzen unter einer natürlichen Entbindung abfielen? Und aus diesem Grund ein Kaiserschnitt vonnöten gewesen wäre? O, du warst eine kleine Raupe, verpuppt in unserem gemeinsamen mütterlichen Kokon. Alles war bei uns Zweien so anders. Niemand war darauf vorbereitet. Nicht einmal wir selber. Ich weiß, ich weiß, Bedürfnisse von Zwillingen, wie wir sie nun einmal sind, gelten als individuell, d. h. sie können sehr unterschiedlich sein. Was für dich als Totgeburt von Bedeutung war und noch immer ist, muß für einen Lebenden wie mich nicht zwingend notwendig sein. Oberflächlich betrachtet. Denn ich wurde in meinem späteren Leben eines besseren belehrt… Für eine Existenz wie dich, liebste Schwester, haben unsere Sinneserfahrungen keine Antennen ausgebildet. Dein Tot-Sein vor einem Leben erscheint uns geradezu unlogisch. Wir haben uns als Lebende so sehr daran gewöhnt, dass der Tod erst das Ende unseres Lebens darstellt. Doch bei dir war und ist es gerade umgekehrt. Es war dein Anfang. Uns Lebenden erscheint es falsch zu behaupten, dass Tote für uns eine reale Rolle im Leben spielen sollen und können… Es ist aber so. Glaube mir bitte, ich bin offen für all deine Ratschläge, die du mir gerade durch deinen Tod geben kannst. Denn die Kunstwelt, die ich bewohne, ist eine offene Welt. Sie schließt die Lücken, sie füllt die Leere in meinem Leben aus, auch und gerade durch den zu frühen Tod einer Schwester. Damit will ich sagen: Dein Verstorbensein ergänzt mein Lebendigsein. Wir vervollständigen uns…“  Aus diesem Grund bittet Camass mich auch immer wieder: „Bruderherz, zeige mir, wie es ist als Mensch zu leben.“ Und ich versichere ihr: „Du und ich, Camass, wir brauchen einander.“ Davon bin ich mehr und mehr überzeugt, denn nur so finde ich, finden wir Freiheit. Würde ich alleine etwas erreichen, was hätte ich davon? Nur indem ich mich mit jemandem über das Erlebte austauschen kann, verspüre ich erst Freiheit. Die Freiheit ist es, die das Alleinsein negiert. Oder anderes formuliert: Unsere gemeinsame Freiheit negiert die Einsamkeit. Deshalb reift Camass in meinem Herzen heran, wie ein totgeborenes Kind was unter meinem Herzen verborgen war, wächst sie nun, wird lebendig, sie dreht sich meiner noch melancholischen Ferne entgegen, wissend, dass sie diese auflösen wird. Je näher ich dem Tod komme, umso lebendiger wird sie. Das ahne es intiutiv, die Bilder beweisen es längst…“ Und während ich das schreibe, höre ich von Ozzy Osbourne „Changes“: I feel so sad / I lost the best friend / That I ever had / She was my SISTER / I loved her so. Genau das ist es: Changes. Änderungen. Vieles verändert sich… in mir. Es fühlt sich gut an. Sehr gut. Frei. Das ist wohl das Sterben und das Leben in der Gegenwart… früher mal bekannt als KUNST. Eine offene Kunst, Abgesperrt vom Weltgewimmel / Nur mit einem Streiflein Himmel… in der Hand. In meinem Herzen

(Erste Aufzeichnungen aus meinem Buch, was es noch zu schreiben gilt.)