„drink me“ (um mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen)

Das früheste Erlebnis der Kunst muss ihr Erlebnis als Mittel der Beschwörung, der Magie gewesen sein; die Kunst ist ein Instrument des Rituals. „One pill makes you larger / And one pill makes you small / And the ones that mother gives you / Don’t do anything at all / Go ask Alice when she’s ten feet tall…“ summte es in meinem Kopf. Lange war ich unterwegs gewesen. Nun war ich in ein diffus beleuchtetes Zimmer gelangt. Ich lag nur da, auf dem Schoß einer Königin, wie mir schien, als plötzlich mein Blick auf ein kleines Fläschchen fiel. Ein Zettel mit den Worten „drink me“ war daran befestigt, aber es war mir unmöglich, eingeschnürt wie ich war, den Pfropfen heraus zu ziehen und das Fläschchen an meine Lippen zu setzen.

„Ich weiß, etwas Merkwürdiges muss geschehen, sobald ich das trinke; drum will ich versuchen, was dies Fläschchen und sein Zettel von mir verlangen“, dachte ich bei mir. „Ich hoffe, es wird mich wieder größer machen; denn es ist mir sehr langweilig, solch winzig kleines Ding zu sein!“ Sehr richtig. Wenig später und zwar schneller, als ich erwartet hatte, ehe ich das Fläschchen halb ausgetrunken hatte (wie auch immer dies mir gelungen war), fühlte ich, wie mein Kopf an die Decke des Zimmers stieß. Da erkannte ich, das es mein eigenes Künstleratelier war. Ich musste mich rasch bücken, um mir nicht den Hals an einer Staffelei zu brechen. „Das ist ganz genug – ich hoffe, ich werde nicht weiter wachsen – ich kann so schon nicht zur Türe hinaus – hätte ich nur nicht so viel getrunken!“ O weh! es war zu spät, dies zu wünschen. Ich wuchs und wuchs, und musste sehr bald auf dem farbverschmierten Fußboden niederknien; den nächsten Augenblick war selbst dazu nicht Platz genug, ich legte mich nun hin, mit einem Ellbogen gegen die Tür des Ateliers gestemmt und den andern Arm unter dem Kopfe. Immer noch wuchs ich, und als letzte Hilfsquelle streckte ich meinen Arm zum Fenster hinaus und einen Fuß in einen Lüftungsschacht hinauf, und sprach zu mir selbst: „ When logic and proportion have fallen sloppy dead / And the white knight is talking backward / And the red queen, she’s off with her head / Remember what the dormouse said / Feed your head, feed your head, feed your head…“  Ich musste das Atelier verlassen und irrte draußen verloren wie auf einer Kunstmesse umher… Müde legte ich mich nieder. „Irgendwann in der Vergangenheit, zu einer Zeit, als hohe Kunst selten war, muss es einmal ein revolutionärer und schöpferischer Akt gewesen sein, Kunstwerke zu interpretieren“, flüsterte ich im Traum mir zu. „Heute ist das nicht mehr der Fall. Denn eine Interpretation setzt ein sinnliches Erlebnis des Kunstwerks als selbstverständlich voraus und basiert darauf. Aber dieses sinnliche Erlebnis, meine ich, nur durch die geöffneten Sinne kann man das Schöne und Anregende dieser Welt erfahren, dies lässt sich heute nicht mehr ohne weiteres voraussetzen… “

(Textfragmente von Susan Sontag, Jefferson Airplane, Lewis Carroll)