Die erinnerte Zeit

Das eigene Leben ist viel zu kurz, sagte einmal jemand, und fügte hinzu, die Lektüre von Marcel Proust sei dagegen viel zu lang. Aber jetzt gerade hätte man doch die Zeit dafür, denke ich. Für Proust. Lehne ich mich also entspannt zurück und gehe mit Marcel Proust auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Die Zeit vor Corona ist längst eine Zeit geworden, die unwiederbringlich verloren gegangen ist. Vielleicht verstehe ich deshalb auch endlich Marcel Proust, der schon früher erkannte, dass Zeit erst einmal vergehen muss, dass Zeit verloren gehen muss, damit wir uns erst wieder an sie erinnern können. Der Schriftsteller erklärt mir, dass ich etwas eigentlich nur retrospektiv in meinen Erinnerungen erleben kann, nie in der Gegenwart. Was aber sind dann meine täglichen Tagebucheinträge, all meine Artikel auf dem Blog? Augenblickliche Erlebnisse? Ich schreibe, also bin ich. Oder sind solche Dinge, meine Kunst, Erinnerungen an kommende, an mögliche Erlebnisse? Vorahnungen gar? Meine Geburt und mein Tod existieren, so wie alle Dinge um mich herum existieren. Geburt und Tod existieren nur zu verschiedenen Zeiten. Meine Kunst lässt mich zwischen diesen Punkten hin und her reisen. So stehe ich am Laufstall meines Vaters. Und schließe meine Mutter, die 2019 verstarb, wieder in meine Arme. Kunst ist immer auch eine Suche nach der unfassbaren, aber möglichen Zeit… wie dieser jetzt… hier: