Weisheit

Wenn man etwas erstrebt und bei der Wurzel anfängt, so vergehen kaum vierzehn Tage, und man hat es.

Wenn man aber nach etwas strebt und beim Wipfel beginnt, so macht man sich vergebliche Mühe.

(Lü Be We, chinesischer Philosoph;  um 300 v. Chr. – 236 oder 235 v. Chr. )

Vom Tagebuchschreiben

Wer sich anschickt, ein Tagebuch zu schreiben, der schreibt sozusagen einen Brief an sich selber. Und es gilt zu bedenken, dass das geschriebene Wort sich vom gesprochenen Wort in manch wichtiger Hinsicht unterscheidet. Ein Schriftstück ist in der Regel ein Spiegelbild persönlicher Eigenschaften des Schreibers, und wenn der Schreiber ein anderer als der Verfasser oder Urheber des Schriftstückes ist, ein Spiegelbild der Eigenschaften beider.

Der Inhalt des Tagebuches, wie des Briefes, offenbart die Denkweise des Verfassers oder Urhebers, die Form gewährt Einblick in Charakterzüge des Schreibers wie auch des die Verantwortung tragenden Verfassers bzw. Unterfertigers, die Schriftzüge verraten charakterliche Eigenschaften des Schreibers…

Man soll den Menschen an seinen Früchten erkennen, sagt ein Bibelwort. Es meint damit die als Ergebnis der menschlichen Handlungen abreifenden Früchte bzw. Werke.

Wer will leugnen, dass auch ein Brief (an sich selbst = Tagebuch) ein Zeugnis in sich schließt, das über die Persönlichkeit des Menschen vielseitigeren Aufschluss gibt als andere Früchte, vielleicht von einem Buche, einer musikalischen Komposition oder einem Werke der darstellenden Kunst abgesehen.

Denn die andern Werke bekunden mehr oder weniger nur einzelne menschliche Eigenschaften, zum Beispiel Mitleid, Hass usw. Ein Tagebuch zeigt jedoch für den Aufmerksamen einen ganzen Komplex von Eigenschaften auf, es gewährt in gewissen Umfang bereits ein Charakterbild.

Hopp, hopp, hopp! …

Tipp, tipp, tapp! Wirf mich ja nicht ab! Zähme deine wilden Triebe, Pferdchen tu es mir zuliebe, wirf mich ja nicht ab! Tipp, tipp, tipp, tipp, tapp. Brr, brr, he! Steh, mein Pferdchen steh! Sollst noch heute weiter springen, muss dir nur erst Futter bringen. Steh doch Pferdchen, steh! Brr, brr, brr, brr, he! Ja, ja, ja! Wir sind wieder da! Schwester! Vater! Liebe Mutter! Findet auch mein Pferdchen Futter? Ja, ja, ja, ja, ja! Wir sind wieder da!

(Gestern. Heute. Morgen: Der Künstler als ein kleines Pferdchen… )

mann spricht kunst

Vorwort

in medias res (lat. = mitten in der Sache)

„Was tust du, wenn du melancholisch bist? Malst du dann… auch?“, fragte mich ein liebevolles Gegenüber. Und ich antwortete: „Gerade dann!“ „O!“ Das war ein sehr großes, trauriges »O«, was mir geschenkt wurde. „Du könntest mir ja mal einen Brief schreiben.“ Das sollte aufmunternd klingen. Doch wenn man melancholisch ist, sagt man schon einmal tief seufzend zu sich oder seinem Gegenüber: „Dir einen zu Brief zu schreiben ist wie einen Zettel in eine Flasche stecken und hoffen, er wird Japan erreichen.“ 

Oje. Das klang wahrlich schon sehr betrübt. Gleichzeitig ist so eine Schwermütigkeit durchaus eine Stimmung, die zum Malen inspiriert. Oder, ich gebe dies gerne zu Protokoll, mich zum Briefe schreiben reizt. Ich bin nämlich nicht nur Maler. Ich bin auch ein…

… ein Schreiberling. Tief in meiner Seele bin ich – davon bin ich überzeugt – Sekretaris, der Schreiber aus „Asterix bei Kleopatra.“  Wer von uns bekommt nicht gerne eine zärtliche Zeile zugesendet? Oder gar einen seitenlangen Liebesbrief? Von Hand geschrieben!

Das Glück, was eine Postkarte oder so ein Brief auslösen können, beginnt aber nicht erst beim Lesen! O, nein. Selbst wenn ein Brief auf höchst abenteuerlichen Wegen seinen Zielort erreichen sollte, das Glück beginnt in Wahrheit schon beim Schreiben von solch kleinen (analogen) Kunstwerken wie Brief oder Postkarte! Und später – das ist der wirkliche Traum und der sehnlichste Wunsch – dann, wenn die Liebste oder der Liebste den Brief, die Postkarte, aus-dem-Briefkasten-fischt, dann entfalten Brief und Postkarte augenblicklich ihre großartige Pracht!

Postkarte und Brief vermitteln die Wertschätzung zu einer ganz bestimmten Person so eindeutig, dass sie schon zu wirken beginnt, noch bevor man den Absender gelesen hat. Es gab Zeiten, da war ich dermaßen verzweifelt, da habe ich mir selber einen Liebesbrief geschrieben. Zur Rettung.

Aber noch lieber ist es mir, andere zu retten. Ich umarmte mein Gegenüber und flüsterte in ihr Ohr: „Warte nur, bis du nach Hause kommst… Ich glaube, du hast Post!“

„Ojaaaaaaa,“ stöhnte sie und ergänzte: „Tut mir leid. Ich muss, wenn ich Post bekomme, oder von Dir erwarte, immer so laut stöhnen. Mein Nachbar hat sich sogar schon einmal darüber mokiert. Ich kann mein Stöhnen aber nicht unterdrücken. Ich weiß auch nicht warum…“ (Eine wirklich überaus niedlich-exzentrische Eigenart, dachte ich bei mir.) „Och. Das ist was ganz Normales,“ hörte ich mich mit hochrot-heißen Kopf stammeln, „…und nichts, was man unterdrücken müsste! Wenn du es aber möchtest, dann bitte deinen Freund doch einfach dich zu küssen.“

Und dann küssten wir uns!

Schlusswort

Sekretaris spricht lateinisch, griechisch oder keltisch. Ich spreche und schreibe kunst.

(mit Dank an Albert Uderzo)

Kunst und Pinguine

„O, mein Gott! Was soll das denn sein?“ (siehe unten)

Eine Frage, so vorschnell gestellt und auf mich niedergesaust wie ein Richtschwert. Seine Schärfe verfehlt mich nur knapp. Ich atme erleichtert auf. Meine Antwort, denke ich, darf nach diesem Schock jetzt aber ruhig etwas langmutiger ausfallen. Milder. Nachsichtiger. Bunter. (siehe unten; rechts) Lebendiger.

Die Gesellschaft braucht moderne Kunst aus demselben Grund, aus dem es in den meisten Zoos dieser Welt Pinguine zu sehen gibt!

Der Mensch findet nun einmal Gefallen an Dingen, die auf ihn, auf unerklärliche Weise, gleichzeitig anziehend, als auch absolut widersinnig wirken! Würde man Pinguine nicht mit eigenen Augen sehen, im Zoo zum Beispiel, man würde ihre Existenz nicht für möglich halten. Denn ein völlig aberwitziges Design zeichnet diese Winterkreaturen aus. Fast möchte man geneigt sein zu glauben, Philippe Stark hätte hier seine Hand angelegt. Und so ähnlich ergeht es uns mit und oder bei moderner Kunst.

Ich meine hier unser heftiges Kopfschütteln, unseren nervösen Unglauben, angesichts der möglichen und unmöglichen Formen, die Kunst uns darbietet. Pinguine und moderne Kunst schenken unseren Augen, dies darf hier vorweg genommen werden, auf alle Fälle eine Menge Freude. Darin besteht kein Zweifel. Aber das Wichtigste ist: Ein Kunstwerk, wie auch einen Pinguin, betrachtet man immer um der Erfahrung selbst willen.

Aber beides, Tierart und eigentümliches Kulturgut – unterschiedlicher könnten die Bereiche nicht sein – bedürfen, damit wir Gefallen an ihnen finden können, richtiger Augen oder Ohren. Kunstaffin müssen unsere Sinnesorgane schon sein. Böse Lästerzungen ergänzen an dieser Stelle voreilig und gerne, man müsse die Augen dann aber recht eng beieinander stehen haben. Nur so könne man moderne Kunst ernsthaft begutachten: Augen dicht beieinander und die Ohren am besten weit am Hinterkopf!

Eine böse Verleumdung! Ich behaupte nämlich kühn, dass es schon ausreicht, wenn man sich einfach mal umgekehrt auf einen Stuhl setzt, um moderne Kunst genießen zu können. Das geht dann eventuell aufs Kreuz, öffnet aber den Geist! Und zwar recht weit. Je nachdem welche kamasutra-artige Position man auf dem Stuhl eingenommen hat. Und um welches Objekt es sich handelt, das man betrachten möchte.

Und weil es bloß um das Betrachten geht, kein anderes höhere Ziel wird anvisiert, deshalb ist solch eine ästhetische Erfahrung schlicht einzigartig. (Bei Pinguinen bin ich mir – ich gestehe das bekennend kleinlaut – nicht so sicher, ob solch eine gymnastische Übung ausreicht, um ein neues, ästhetisches Schönheitsideal zu entwickeln. Selbst wenn man diese Viecher über eine längere Zeit studiert. Ich denke, die bleiben für uns Menschen immer nur eigentümlich komisch.) Nun gut… Sitzposition und Objekt müssen stimmen, damit es zu einer Erkenntnis kommt.

Schon hier wird man an die Struktur der Heiligen Messe erinnert und das Problem des Glaubens. Das Objekt, um das es meist in der Religion geht, es ist, wie auch in der Kunst, einfach unbeschreiblich. Auf eine ganz bestimmte Weise nicht begreifbar. Wie ein Pinguin! Aber zwischen mir und diesem Objekt kann etwas entstehen. Und dieses geheimnisvolle Dritte, das ist die eigentliche Kunst.

Man fühlt sich von dem Kunst-Gegenstand stets auf eine ganz bestimmte Weise angesprochen. Und wenn man seine Sprache versteht, darf man sich gerne für einen Dr. Doolittle der Modernen Kunst halten. Ein Kunstflüsterer. (Wenn man die Sprache von Pinguinen versteht, empfehle ich, sich anderswo Rat und Hilfe zu holen.)

Um Kunst mit seinem inneren Ohr lauschen zu können, kann man zum Beispiel zu einer Kunst-Messe fahren. Und sich dort an allen möglichem Krempel erfreuen. Wenn Kunst draußen dran steht, dann wird wohl auch Kunst drin sein. Aber das ist eigentlich zu einfach gedacht, finde ich. Diese Herangehensweise stellt keine richtige Herausforderung dar. Bei einem Juwelier anklopfen und schauen, ob dieser auch Ringe anbietet, wo sollte da die Abenteuerlust sein?

Schlendert man auf einer Kunst-Messe nicht in Wahrheit wie bei einem Marken-Discounter umher? Und studiert Preise und Schnäppchen und die Kunst-Artikel der Saison, wie andernorts Angebote von Hühnersuppe und Bratlingen? Nein, nein, das ist für mich Pauschal-Kultur. All inclusive. Bespaßung in jeder Koje, all you can eat… or see. Ehrlich, manchmal möchte man das ganze Elend gar nicht wirklich betrachten müssen. Das heißt: der Besuch einer Kunstmesse kann, wenn man vegetativ übersensibel ist, wie ein Besuch am Nacktbadestrand wirken. Dort sieht man bekanntlich auch nicht immer nur Schönes.

Ich will jetzt aber nicht als ein mieser Kulturpessimist verstanden werden. O, nein! Aber, wissen Sie was: für jemanden wie mich, den die Kunstszene bis dato noch nicht einmal wie ein lästiges Kaugummi unter ihren Pradastiefelchen angesehen hat, für mich war es bis dato immer wichtiger zu glauben und/oder einfach davon zu träumen, dass die bloße Anwesenheit von Objekten jeglicher Couleur auf einer Kunstmesse nichts, aber auch gar nichts mit dem Feuer zu tun hat, das mich bei moderner Kunst stets wärmte.

Denn dieses Feuer, lodert an den unterschiedlichsten Orten und in den unglaublichsten Augenblicken auf. Was ich damit sagen will: ich finde beim Discounter mit Sicherheit etwas zu essen. Aber wahnsinnig glücklich werde ich, wenn ich während einem Spaziergang plötzlich und unerwartet Himbeeren an einen Strauch entdecke. Vielleicht ist es aber auch nur eine kleine Blume, die mich plötzlich erfreut. Ein Stein. Ein Zweig.

Vielleicht

Tu bi or not tu bi dsät is dsö kueßtsch´n

(Träume und Realitäten, sie verschwimmen miteinander. Unmöglich zu sagen, was von den beiden Wahrheiten stets zuerst da ist. Und welche dieser Tinkturen dann in die andere gegossen wird, um sofort einen zauberhaften, schleierartigen Tanz zu vollführen; solange bis alles absolut hundertprozentig vermischt ist. Träume ich von einer Psychiatrie, in der Vater von seinen Visionen befreit werden soll? Immer häufiger fragt er inzwischen nach seiner Mutter. „Bitte lehre mich, damit ich in den Himmel fliegen kann!“, flüstert er. Und sie sitzt dabei, weicht nicht von seiner Seite. Sie scheint mir ebenfalls eine Träumerin zu sein. Gut so. Viele meiner Träume sind mir längst angenehm real geworden… Ich strecke zum Beispiel meine Hand aus und bekomme jeden Zipfel eines erotischen Traums zu fassen. Ich höre sein Keuchen, sein Kichern, sein Gurren. Ich sehe vor mir alles ausgebreitet, so real wie ein Kännchen Kaffee da draußen in der angeblichen Wirklichkeit. Mein Vater schlürft gedankenverloren an seiner Tasse. Dann verschwindet er. Seine Mutter folgt ihm, ohne ihre Schürze abzulegen. Zurück bleiben nur ganz zarte Spuren von ihnen.)

Mein (geiler) Antonius

WIR SEHEN Portraits des Heiligen. Verdrehte Augen gen den Himmel.

Eine Wüstenlandschaft. Felsen. Dann Zypressen. Rosensträuche. Das ekstatische Gesicht einer Frau. Entblößte Brüste. Ein Eselskopf. Adam blickt in den kleinen Ausstellungsführer. Er liest vor… ER (ADAM): „Die Versuchungen des heiligen Antonius werden in der Vita Antonii und in anderen Quellen geschildert. So erscheint ihm in seinen Visionen der Teufel in menschlicher Gestalt, als schwarzer Knabe oder verführerische Frau, um ihn zur Sünde der Unzucht zu verführen, aber auch in Gestalt von dämonischen Bestien, um ihn körperlich zu quälen.“

Während er vorliest sehen wir weitere Detalis von Gemälden. Dann aber auch schnelle Einblendungen von pornografischen Fotos.

Auf einem erkennt man die Frau. Sie trägt einen Mundknebel. Er fotografiert sie. Blitzlicht! DIE FRAU: Willst schwarzer Knebel/Knabe du mit mir gehn? Mich reizt deine schöne Gestalt; Gar schöne Spiele spiel ich mit dir. Das ist die Schule der Frauen!

DIE SCHWESTER: Das hast du schön gesagt, meine Liebste. AARON: Na, das gefällt dir? Bizarre Landschaften. Grenzen die sich ohne Probleme zwischen Schein und Sein verschieben. Wunsch und Alptraum wechseln sich ab. Wie auf einem Kinderkarrussell.

Und dann und wann: eine nackte Frau! Eine Kreatur.

ER (ADAM): Oja. Man fühlt hier sogleich den Durst nach dem Martyrium.

DIE SCHWESTER: Na denn: Prost, mein Lieber!

DIE FRAU: Prost!

Rede an den kleinen Mann

„… Du bettelst um Glück im Leben, aber Sicherheit ist dir wichtiger, auch wenn sie dich dein Rückgrat, ja dein ganzes Leben kostet. Da du nie gelernt hast, Glück zu schöpfen, zu genießen, zu beschützen, kennst du nicht den Mut des Aufrechten. Du willst wissen, kleiner Mann, wie du bist? Du lauschst den Ankündi­gungen der Abführmittel oder der Zahnpasta oder der Schuhcreme oder der Geruchsaustilgungsmittel im Radio. Aber du hörst nicht die Musik der Propaganda. Du vernimmst nicht die abgrundtiefe Dummheit und wider­liche Geschmacklosigkeit der Locktöne, die bestimmt sind, dein Ohr zu fangen.

Hast du je aufmerksam die Witze gehört, die der Witzbold im Kabarett über dich macht? Über dich, über sich selbst, über deine ganze kleine elende Welt. Du hörst den Witz über dich, und du lachst herzlich mit. Du lachst nicht, weil du dich humorvoll selbst bespöttelst. Du lachst über den kleinen Mann, doch du ahnst nicht, dass du über dich selbst lachst, dass man über dich lacht. Und die Millionen kleiner Menschen wissen nicht, dass man über sie lacht.“

Wilhelm Reich war ein unbequemer Zeitgenosse – ein brillanter Denker, provokativ und kompro­misslos. Als Arzt und angesehener Psychoanalytiker war Reich zunächst Freuds Lieblingsschüler. Doch seine Ansichten zu Sexualität und Politik erregten Anstoß bei den um soziales Ansehen bemühten Kollegen. Er wurde regelrecht gehasst und verstoßen. Wegen der Brisanz seiner Themen musste er aus fünf Ländern fliehen. Reich wurde bewundert, diffamiert, verfolgt. Nach seinem einsamen Tod in einem amerikanischen Gefängnis wurde sein Werk lange Zeit totgeschwiegen. Dennoch – Wilhelm Reich gab wesentliche Impulse für unser heutiges Verständnis von Sexualität und Kindererziehung und vor allem für die modernen, körperorientierten Therapieformen. Weiterhin unbekannt sind seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Sie entwickelten sich in logischer Folge aus seiner psychiatrischen Arbeit: Es ging ihm darum, die Kräfte des Lebendigen zu fördern, vor seelischer Erstarrung und der Zerstörung der Umwelt zu schützen. Seine ganz-heitliche Sicht führte ihn zu der Entdeckung der Lebensenergie nicht nur als psychologische, sondern auch als physikalische Kraft. Sein Werk umfasst so vieles – Psychatrie, Medizin, Krebsforschung, Soziologie, Pädagogik, Biologie und Physik. (Wilhelm Reich *1897; + 1957)