Lazarett-Poesie

„In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat…“, so beginnt das Märchen vom Froschkönig der GEBRÜDER GRIMM. Von dieser Zeit träume ich. Und deshalb lebe ich dieser Zeit… in meiner Kunst. Ich bin ein Dichter meines eigenen Lebens. Ich laufe ins Leere. Bin ein Nowhere Man, mache Pläne für niemanden, schwimme gegen den Strom, unpropotional und märchenhaft. Ein Lazarett-Poet. Ich schreibe… ich male…

… als wäre ich krank …?

Ich mag nicht mehr Wurzel sein

Eine Künstlergeburt!!!

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„… das Schlimmste, was einer deutschen Familie passieren kann, ist, einen Künstler oder Intellektuellen aufnehmen zu müssen.“ Meint der (Film-)Publizist Georg Seeßlen. Was für eine Schmach: Eine Mutter bringt einen Künstler zur Welt.

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„Künstler“, so Seeßlen weiter „sind in deutschen Krimiserien geborene Mörder, zumindest PORNOGRAFEN oder anders DEKADENT. Wenn Kommissar Derrick unter den Reichen und Schönen „einen Mord aufdeckt, so ist zumindest am Rande immer ein kränklicher Intellektueller beteiligt.“ Ich wollte bekanntlich immer in meinem Paradies hocken bleiben… (siehe Rubrik „Schwanenbeichte“), aber leider… es ist eben anders gekommen. So brachte meine Mutter mich zur Welt: “Ich mag nicht mehr Wurzel sein. In der Finsternis schwankend, ausgestreckt, zitternd vor Schläfrigkeit, immer abwärts, saugend und sinnend, überdrüssig meines Schattens. Es geschieht, dass ich müde bin… zu müde, um Mensch zu sein“; ich kam zur Welt, mit Gedichtfetzen von Pablo Neruda auf den Lippen.

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Lebensbilder

Mutter stöhnte. Weit draußen auf einem heißen, fiebrigen Meer der Vorstellungen. Anders formuliert: Die Zeit hatte so etwas wie mich noch nicht bereitgestellt.

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Wenn überhaupt, dann war ich so etwas wie ein hoffnungsschwangerer Tautropfen, angeheftet an eine noch unbestimmte Unendlichkeit. Konnte man das so formulieren?

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Wie sollte man reden, über etwas das man zu sprechen nicht imstande war? Man benutzt die Poesie? Kunst. Liebe. Zufall. Und das Schicksal als Chance. Weder Klage noch Anklage. Pathos. Mut zum Schmerz. Und Lächerlichkeit!

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Wie dem auch sei. Wenn ich, in welche Form auch immer gegossen, als poetischer Tautropfen, einen Wunsch frei gehabt hätte, damals, vor meiner Zeit, dann den, nicht zu früh an das Land der Möglichkeiten geworfen zu werden.

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Ich wußte, ich gäbe mit Sicherheit nur ein recht mittelmäßiges Opfer ab. Poetisch betrachtet, dachte ich bei mir.

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Liebsterer

Als man mich einst, kurz nach meiner Geburt, meiner Mutter in die Arme legte, hielt ich die Augen fest geschlossen. Instinktiv tat ich so, als ob ich schlief. Meine Mutter ließ ich liebend gerne, wie auch meinen Vater, was mein Wesen betraf, vorerst im Ungewissen. Für sie war ich ihr Kind. Ein scheinbar gesundes Baby. Wie hätten sie ahnen können, dass ich…?

Ameisen hatten einst den Samen meines Vaters zu meiner Mutter hinübergetragen. Hatten ihn in das Wollustbeet gepflanzt und beobachtet wie in ihm ein Ei heranreifte, dass sich seine Schale aus der Süße einer gekeuchten Leidenschaft formte. Diese Szenerie kam mir vor, als ob ich sie durch ein Kaleidoskop betrachtete. Eine Art Fata Morgana. „Es dauert so lange mit dem Ei,“ hörte ich vor meiner Geburt meine Mutter durch die Schale meiner kleinen Behausung stöhnen. In diese Stimme war ich regelrecht verliebt.

„Aber ich will noch ein Weilchen drauf liegen bleiben.“ Wenn sie das sagte, dann wurde es angenehm warm in meinem kleinen Heim. Das Licht wurde daraufhin schwächer und die Raumtemperatur stieg wohlig an.

Dann starrte ich vor mich hin. Aus meinen Gedanken versuchte ich ein buntes Band zu stricken, an dessen Farben ich mich erfreuen konnte. Über diese Art der Meditation schlief ich meistens ein… Ich, ein scheinbar gesundes Baby! Das war ich. Wie hätten meine Eltern darüber hinaus noch ahnen können, dass ich…? Ein Künstler!

Nein, sie wussten es noch nicht. Aber ich! Und in der Nacht musste ich mich aufgrund der Welt, die sich in meine noch jungen Künstlerlungen zwängte, erbrechen. Aus Kindern wurden Leute.

Aus Leuten werden Kinder.

Das ist der Kreislauf.

Postkarten an „Kickkack“

Alle in meiner Familie nannten, soweit ich denken kann, meine Urgroßmutter nur „Kickkack.“ Der Grund dafür, er lag in einer Eigenheit meines Bruders begründet.

Er verwechselte nämlich als Kind die Vorsilbe „Ur“ ständig mit dem Wort „Uhr.“ Er wusste zwar, jede Uhr macht „Tick-Tack“, doch diese lautmalerische Finesse konnte mein Bruder nicht richtig aussprechen! Er sagte stattdessen und sehr überzeugend: „Kickkack.“

Unsere ganze Familie schloss sich bald großherzig diesem kleinen, durchaus lustig-phonetischen Taschenspielertrick an. Und so nannten wir die Urgroßmutter bald nur noch liebevoll unsere „Tick-Tack-Oma“. Oder eben etwas kürzer und surrealer: „Kickkack.“ 

Kickkack war es übrigens, die mir vor sehr vielen Jahren erklärte, dass ein bestimmtes Kribbeln unter meiner Haut normal sei. Es gehöre zum Erwachsenwerden dazu.

An dem Tag, als sie mir dies erklärte, das weiß ich noch genau, saß ich in ihrer kleinen Wohnung und bekam von ihr, wie immer, wenn ich sie besuchte, ein Knäckebrot mit Apfelkraut zu essen.

Während ich es aß, blätterte Kickkack ab und an in der Wochenzeitung DIE ZEIT, die sie wie ein Tischtuch vor sich ausgebreitet hatte. Zugleich unterhielten wir uns aber über alles Mögliche und Unmögliche. Besser gesagt, sie gab mir Unterweisungen und Erklärungen. Auch darüber, was es zum Beispiel mit Ameisen unter der Haut von jungen Männern auf sich hatte, die dieses fragliche Kribbeln zu verursachten verstanden.

Kickkack machte mir deutlich, dass die Ameisen, die unter meiner Haut lebten, später dafür sorgen würden, dass sie ihren Samen weltwärts in eine Frau tragen würden.

Nach dem Hochzeitsflug würden die Ameisen ihre Flügel abwerfen und den Samen als Geschenk in ein Beet pflanzen, aus dem ein Ei wachsen könnte.

Zunächst würden die Ameisen das Beet mit einer farblosen, aber stechend riechender Flüssigkeit tränken, dozierte die alte Frau, um das Nest für das geheimnisvolle Ei vor zu bereiten.

Sie schmunzelte schelmisch, als sie mir diese Geschichte erzählte. Für meine jungen Ohren war das verständlicher weise alles ungeheuer spannend und abenteuerlich. Gleichzeitig verstand ich aber kein einziges Wort von dem, was meine geliebte Urgroßmutter von sich gab.

Ach, Kickkack! Stumm hörte ich ihr zu…

Am Abend…

Ich lag einfach nur da und verleugnete trunken den Wahrheitsgehalt der eigenen Existenz.

… Und meine Bilder? Was sollte ich mich denn eigentlich beschweren? Meine (Bild-) Geschwüre waren längst mit Gold überzogen. Geschmückt und überschminkt. Niemand möge sich meine Arbeiten mit reinem Gewissen anschauen!

Denn sie waren allesamt Wunden, die mich aus schlimmste entstellten; es waren Narben, die ich stolz-traurig zur Schau trug. Es waren Fleischstücke, die ich mir aus dem Körper gerissen hatte, um mich dann selber damit zu füttern. Sollte jemand daran jemals Gefallen finden können?

Der offenherzige Betrachter meiner Werke, überlegte ich, wäre sicherlich beschämt, wenn er sich meine Bilder mit großem Vergnügen anschaue… Wie ein Schwarm tiefschwarzer, aufgescheuchter Vögel schossen solche Gedanken durch meinen Kopf…

Dieses Schauspiel ließ mich nach weiteren eigenen Bildern suchen… Keine vordergründig richtigen sollten es sein, sondern wahre Bilder. Keine kopierten Bilder, sondern sich selbst befriedigende Bilder…

Ich sehnte mich nach Bildern, die wie eine beredte Stille waren. Das hieß, in ihnen zwitscherten die Vögel und zerbarsten die Wolken auf dem Boden der Poesie, um aus ihren Splittern sofort neue Gebilde zu formen. Kritzeleien wurden Symbole für ein Alphabet der Möglichkeiten. In solch abgründigen Gründen wollte ich nach meinen Bilder suchen… Es war wie das Aufrichten einer Zirkuskuppel im eigenen Herz.

Einem Diktat von unverständlicher Ungegenständlichkeit wollte ich mich niemals ergeben. Eher wollte ich höchst erleichtert und amüsiert einem Publikum ausrufen können:  “Aber ihr habt ja gar nichts an!“ 

Das Fenster zum BLOG

Das Fenster zum BLOG oder Die Position des Tages.

Die Handlung: Der barocke Minimalist D. B. ist nach seiner Künstlergeburt (siehe dazu auch „Schwanenbeichte“) auf guten Rat, wie auf seine neurotischen Ansichten angewiesen. Aus purer Langeweile, als auch aus Verzweiflung, beobachtet er von seinem Fenster aus das Geschehen im Hinterhof der Welt, das heißt der Kunst!  Das anfängliche Vergnügen über die Marotten seiner Nachbarn weicht allmählich einer obsessiven Neugier. Und der Erkenntnis: Man muss knien können, um verachten zu dürfen! Von seinem Zeitvertreib lässt er sich auch nicht durch die warnenden Ratschläge der ewigen Besserwisser  („Mach doch mal etwas Vernünftiges!“) abhalten, die ihn zeitweilig wie Alpträume heimsuchen. Fürsorglichen Besuch erhält der barocke Minimalist von seiner Frau, die als elegante Karrierefrau aus einer erfolgreichen Werbeagentur den charakterlichen Gegenpol zum (abenteuer)lustigen und an das einfache Leben gewöhnten Künstler bildet. Immer wieder ist seine Frau in hitzigen Diskussionen vergeblich bemüht, D.B. von seinen waghalsigen Reisen in die fernen Länder seiner Phantasie abzubringen, damit er dann mit ihr gemeinsam ein bodenständiges Leben führen kann. Ein ewiger Tanz, den beide aufführen…

Aber damit nicht genug: Aufgrund einer künstlerischen Schieflage in der Stadt und der Welt an sich, und den meist unbequemen Haltungen, die man als Künstler ständig einnehmen muss, findet D.B in den Nächten keine Ruhe mehr. Er bemerkt (meist) im Halbschlaf, dass einer seiner Nachbarn (und angeblich ebenfalls ein Künstler) die Wohnung mehrmals mitten in der Nacht im strömenden Regen mit seinem Musterkoffer verlässt. Am nächsten Morgen ist dessen Ehefrau verschwunden. Mit einem Fernglas, später auch durch das Teleobjektiv eines Fotoapparats, beobachtet D.B., wie der Nachbar, in Wahrheit ein absoluter Possenreißer (!!!!!), ein Messer und eine Säge in eine Kunstzeitung wickelt. Der Künstler berichtet seiner Frau und seinen Freunden auf seinem BLOG von den verdächtigen Vorgängen und entwirft eine gewagte KUNSTmordtheorie. Seine Frau zeigt zunächst kein Verständnis, ändert aber schlagartig ihre Haltung, als sie mit eigenen Augen sieht, wie der benachbarte Kunstidiot einen großen Schrankkoffer mit Seilen verschnürt. Als D.B.s Frau später die Vorhänge schließt, um sich ihrem geliebten Mann in verführerischer Wäsche zu präsentieren, ertönt plötzlich ein Schrei aus dem Hinterhof! Das kleine rosa Kaninchen eines alten Ehepaares wurde mit gebrochenem Genick aufgefunden! Die gesamte Nachbarschaft erscheint an ihren Fenstern – nur der Possenreißer zeigt keine Regung. Als barocker Minimalist, intrinsisch motiviert, versucht nun der Künstler, das Motiv für den Tod des Tieres herauszufinden, und stellt mit Hilfe seiner eigenen Arbeiten fest, dass einige Pflanzen in einem Blumenbeet nahe der Fundstelle innerhalb von zwei Wochen kürzer geworden sind. Solche Zeichen und Symbole versteht er genau zu deuten. Künstler können das! Possenreißer sind zu blöde dazu. Mit Sicherheit, weiß der Künstler nun, hatte das rosa Kaninchen etwas ausgegraben und wurde vom Täter dabei ertappt. Um dem Possenreißer aus seiner Wohnung zu locken, täuscht der Künstler mit einem Brief (58 Cent) und einer Postkarte (45 Cent) zwecks fingierter Geldübergabe eine Erpressung vor. Seine Frau gräbt daraufhin das Blumenbeet um, findet aber keine Anhaltspunkte für ein Verbrechen. Daraufhin klettert sie über die Feuertreppe und den Balkon durch das Fenster in die Wohnung des Possenreißers, um dort nach Beweisen zu suchen. Dort entdeckt sie – O Schreck! – hunderte, ja, tausende von Latexmasken, die dem Konterfei von Jonathan Meese nachempfunden sind. Eine Verschwörung der Possenreißer! Sie sind mitten unter uns! Himmel hilf! Der Künstler zieht sich in die Tiefe seines Ateliers zurück und lauscht, wie Blütenblätter sich zur Musik von Johann Sebastian Bach entfalten. Er lächelt dabei.

Ein Wunder das weinte und das schrie

„Mein Muttervulkan“, philosophierte ich, „hat mich als eine Landschaft geschaffen. Zu allererst wwwurde dieses kleine Land vermessen! Abgeschritten und gewogen. Dann wwwurden alle Details mit Namen versehen, damit man die Details von einander unterscheiden konnte. Alle WWWelt macht das so.“ Details erhielten so poetische Namen wie Glied, Scheide, Bauch oder Po. Hände. Finger. Gesicht. Haare oder Narbe. Beine sowie Nabel. Mund. Oder auch Lorelei. Ebenso Rapperswil. Die Mütter der Welt benannten alles so natürlich wie möglich. Auch meine Mutter. Auf ihr unterhaltsames Spiel der Namen wollte ich Obacht geben! Alle Namen und Begriffe wollte ich mir genau einprägen. Still lauschte ich. Und sagte vorerst keinen Ton. Nur allzu gerne hätte ich schnell gelernt, an was ich mich zu halten hätte. Wollte zügig herausfinden, wer und was ich war.

Wiederholungszwang

Er stockte. „ Sagen Sie doch bitte den Eltern, dass sie einen Künstler zur Welt gebracht haben. Aber bringen sie es ihnen schonend bei. Es wird ein Schock sein. Erst diese komische Geburt. Und dann das auch noch!“ Die Stimme des Arztes klang irgendwie sehr traurig. Heimlich blinzelte ich mit einem Auge. Und sah, dass er sehr nachdenklich zu mir hinabschaute. „Es wird für die Eltern ein Schock sein. Gewiss,“ versicherte die Krankenschwester. Sie zupfte an der Decke des Bettes herum… MOMENT! MOMENT! … Diesen Text habe ich doch schon einmal geschrieben. STIMMT GENAU!… Aber ich wollte ihn einfach noch einmal HÖREN (mit einem KLICK auf schwanenbeichte):

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Und wie geht es weiter? Dies kann und muss man jetzt „leider“ wieder mühsam selber lesen… Es ist doch tragisch… oder?

„Künstler. Zum allerersten Mal in meinem Leben hatte ich dieses Wort vernommen. Und augenblicklich war ich vom Zauber dieses Wortes gefesselt. Auf der Stelle wollte ich Künstler werden! Das Künstlertum sollte mir gehören. So wie der Arzt es betont hatte, musste es etwas wunderbares sein. Mir kam es wie ein Essen vor, das ich, obwohl ich es nicht kannte, gleichwohl bestellte, weil es so lecker klang. Künstlertum. Dieses Wort lag wie ein geheimnisvoller Geschmack auf meinen Lippen. Wie die Zutat zu einem exotischen Essen. Ein Gewürz des Lebens. Als Künstler würde ich sicherlich eine Lücke finden. Und mich in ihr einrichten können. Würde dort fortan mein Spiel spielen. Die Dinge des Lebens und mich selber könnte ich in dieser Lücke verrücken. So wie es mir und meinen Spielregeln zusagte. Nachdenklich geworden blickte ich auf das Papierschildchen an meinem Handgelenk. Dort waren nur einige nichts sagende Punkte und Linien hinterlassen wurden.“

Und wenig später heißt es in meiner Schwanenbeichte: „Alles war offen. Alles war weit gespreizt. Freizügig. Ohne Hemmungen. Niemand hatte den Kunstweber gezwungen sich auszuziehen. Er hatte sich selbst entblößt. Und deswegen musste auch niemand zur Selbstbeschämung neigen. Im Gegenteil. Alle waren entzückt über die Enthemmtheit des Kunstwebers. Und genau deshalb hielt ich Ihn für einen verlogenden Possenreißer! So sehr mich die Geste des Possenreißers auch berührte, so sehr ärgerte sie mich gleichzeitig auch. Er war ein Gaukler…   Ein Bild zerbrach.“

(Text und Bilder sind selbstverständlich von mir. Den Text las mein lieber Freund Olaf Reitz  www.olafreitz.de ) Die Schwanenbeichte wird fortgesetzt. Sie ist fast wie ein Wiederholungszwang.